Vielleicht, sagte Snowy sich. Aber er machte sich auch Gedanken wegen der Ratten.
Das Gleichgewicht würde sich langfristig wieder einstellen. Variationen, Adaption und natürliche Auslese würden schon dafür sorgen; die alten Nischen würden von der einen oder anderen Art wieder besiedelt werden. Aber die neue Gemeinschaft hätte dann vielleicht nichts mit der alten gemein. Und weil die Säugetierarten im Durchschnitt nur für ein paar Millionen Jahre existiert hatten, sagte Sidewise, würde es auch wieder Millionen Jahre dauern – zehn, vielleicht zwanzig, zwanzig Millionen Jahre –, bevor die Welt wieder in alter Herrlichkeit erblüht war. Selbst wenn die Menschen eine Renaissance erlebten und zum Beispiel für fünf Millionen Jahre überdauerten, würden sie trotzdem keine Welt mehr sehen, wie Snowy sie als Kind gekannt hatte.
Snowy war nicht sehr naturverbunden. Dennoch war diese Vorstellung zutiefst beunruhigend. Die Situation, in der er sich befand, mutete ihn absolut irreal an.
Es stieg noch kein Rauch auf – das verdammte Feuer war noch immer nicht in Gang gekommen. Er schob den Bogen weiter hin und her.
Das größte Problem beim Feuermachen bestand darin, dass er zu viel Zeit zum Nachdenken hatte. Er vermisste seine Freunde, die Kameradschaft bei der Truppe. Er vermisste seine Arbeit und sogar die Routinetätigkeiten – die Routine vielleicht sogar am meisten, weil sie seinem Leben eine Struktur gegeben hatte, die nun fehlte.
Er wurde sich bewusst, dass er die Geräusche vermisste, obwohl dieser Verlust sich eher unterschwellig bemerkbar machte: Es fehlten Fernsehen, Radio und so weiter, eben die ganze Geräuschkulisse der modernen Welt. Wenn in der Neuen Welt etwas ihn in den Wahnsinn treiben würde, dann wäre es wohl die Stille, sagte er sich, die bedrückende, unmenschliche Stille einer stummen Welt. Er schauderte bei der Vorstellung, wie es in den letzten Tagen gewesen sein musste, als die Maschinen ausfielen, die Leuchtreklamen, die Neonröhren und Bildschirme flackerten und schließlich erloschen.
Und er vermisste Clara. Natürlich vermisste er sie. Er hatte sein Kind nie kennen gelernt und seinen Sohn oder seine Tochter nie gesehen.
Anfangs war er von Schuldgefühlen geplagt worden: Er fühlte sich schuldig, weil er noch lebte, wo so viele im Jenseits verschwunden waren, fühlte sich schuldig, weil er nichts für Clara zu tun vermochte, fühlte sich schuldig, weil er aß und trank und seinen menschlichen Verrichtungen nachging, während alle anderen, die er jemals gekannt hatte, tot waren. Doch diese Befindlichkeit schwächte sich bald gnädigerweise ab. Er war immer schon mit einem Mangel an Phantasie gesegnet gewesen, wie Sidewise einmal konstatiert hatte.
Oder vielleicht war es auch mehr als das.
Im klaren Licht dieser neuen Zeit schien es nämlich, als ob sein altes Leben im überfüllten, muffigen England des einundzwanzigsten Jahrhunderts nunmehr ein Traum war. Als ob er mit dem Grün verschmölze…
Plötzlich hörte er ein Rascheln im hüfthohen Gestrüpp, vielleicht ein Dutzend Schritte entfernt. Er drehte sich in diese Richtung und spähte und lauschte. Ein einziger, mit Samen behafteter Grashalm wiegte sich träge. Er hatte dort drüben eine Schlinge ausgelegt. Schlich da etwas durchs Unterholz, eine rundliche Schulter, ein helles, stechendes Auge?
Er legte den Bogen und das Rundholz weg, stand auf, streckte sich und ging scheinbar ziellos auf die Stelle zu, wo er den Schemen gesehen hatte. Er nahm den Bogen vom Rücken, zog einen Pfeil aus dem Kaninchenfell-Köcher und legte ihn sorgfältig auf die Sehne.
Da rührte sich nichts im Gestrüpp – doch als er es fast schon erreicht hatte, stob plötzlich ein Schemen auf und floh vor ihm. Ganz kurz sah er einen fahlen Leib mit braunen, langen Gliedmaßen. Ein Fuchs? Aber es war groß, größer als alles, was er bisher gesehen hatte. Dann sah er das Wesen zu Boden stürzen.
Ohne zu zögern rannte er darauf zu, stellte ihm den Stiefel auf den Rücken und zielte mit dem Bogen auf seinen Kopf. Das Tier rollte sich herum. Es schrie wie eine Katze und schlug die Hände vors Gesicht.
… Er senkte den Bogen. Hände. Es hatte Hände wie ein Mensch oder wie ein Affe.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und er ließ den Bogen fallen. Er kniete sich über das Tier, klemmte den Körper zwischen den Beinen ein und packte es an den Handgelenken. Es war dünn und geschmeidig, aber auch sehr kräftig: Er musste seine ganze Kraft aufbieten, um ihm die Hände vom Gesicht wegzuziehen. Das Tier spie und zischte ihn an.
Aber sein Gesicht – nein, ihr Gesicht – war nicht das eines Menschenaffen oder Affen. Es war ganz eindeutig ein menschliches Gesicht.
Für eine Weile saß Snowy verblüfft auf dem Mädchen.
Es war nackt. Der Körper war mit einem flaumigen Pelz aus orangebraunen Haaren bewachsen. Das dunklere Haupthaar war ein Gewirr aus schmutzigen Locken, die so aussahen, als seien sie noch nie geschnitten worden. Es war nicht groß, aber es hatte Brüste, hängende kleine Beutel mit harten Warzen, die aus der Behaarung stachen. Und unter dem dunklen Schamhaar-Dreieck war eine Schmiere, bei der es sich vielleicht um Menstruationsblut handelte. Und es hatte Schwangerschaftsstreifen.
Und nicht nur das, dieses Weibchen stank auch noch wie ein nasser Fuchs.
Aber es war nicht das Gesicht eines Affen. Die Nase war zwar klein, aber vorspringend. Es hatte einen kleinen Mund und ein spitzes Kinn mit einem Grübchen. Die Stirn über den blauen Augen war glatt. Sie war höchstens etwas niedriger als seine.
Trotz des haarigen Körpers wirkte sie menschlich. Aber der Blick war – umwölkt, furchtsam und verwirrt.
Er hatte einen Frosch im Hals. »Sprichst du Englisch?«, fragte er sie.
Die Frau kreischte auf und schlug um sich.
Und plötzlich hatte Snowy eine prächtige Erektion. Verdammte Scheiße, sagte er sich. Schnell rollte er sich von ihr herunter und griff nach Bogen und Messer.
Die Frau vermochte nicht aufzustehen. Mit dem rechten Fuß hatte sie sich in seiner Schlinge verfangen. Sie kroch über den feuchten Boden und bedeckte den Fuß. Dann wiegte sie sich mit einem leisen Singsang. Sie hatte offensichtlich eine Heidenangst.
Snowys Anflug von Lust war verflogen. Nun sah sie doch aus wie ein Schimpanse mit ihren Gesten und der kreatürlichen Angst, obwohl ihr Körper sich wie der einer Frau unter ihm angefühlt hatte (Clara, verzeih mir, aber es ist schon so lang her…). Die Kotspuren an den Beinen, und die Urinpfütze an der Stelle, wo sie gelegen hatte, stießen ihn nur noch mehr ab.
Er kramte in einer Tasche der Fliegerkombi und holte den Rest des Rationspäckchens heraus. Es enthielt noch eine Handvoll Nüsse, einen Rest Dosenfleisch und ein Stück getrocknete Banane. Er entnahm die Banane und ein paar Nüsse und hielt sie ihr hin.
Sie schreckte so weit zurück, wie die Schnur der Schlinge es zuließ.
Er versuchte ihr die Sache schmackhaft zu machen, steckte sich selbst ein paar Nüsse in den Mund und kaute sie mit gespielter Verzückung und übertrieben genießerisch. »Gut. Sehr gut.«
Aber sie nahm ihm die Nahrung trotzdem nicht aus der Hand. Ein Reh oder Kaninchen würde das freilich auch nicht tun, sagte er sich. Also legte er die Sachen zwischen ihnen auf den Boden und zog sich zurück.
Sie schnappte sich ein paar Nüsse und stopfte sie in den Mund. Und die Bananen kaute sie, als ob sie den Geschmack bis zur Neige auskosten wollte, ehe sie sie schließlich hinunterschluckte. Wahrscheinlich hatte sie noch nie etwas so Süßes gegessen, sagte er sich.
Oder vielleicht war sie auch nur kurz vorm Verhungern. Er hatte die Falle schon vor ein paar Tagen ausgelegt; sie lag wahrscheinlich schon seit achtundvierzig Stunden hier. Die Fäkalien und die verfilzte, verschmutzte Beinbehaarung waren auch ein Indiz dafür.