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Snowy runzelte angeekelt die Stirn. »Nein. Mir war zwar danach – er stand mir förmlich bis zur Kinnlade –, aber als ich sie mir dann genauer ansah, ist es mir gleich wieder vergangen.«

Sidewise klopfte ihm auf die Schulter. »Deswegen müssen dir aber keine Zweifel an deiner Manneskraft kommen, Kumpel. Weena war wahrscheinlich nur nicht die Richtige für dich.«

»Weena?«

»Ein alter literarische Bezug. Aber egal. Hör zu. Ganz egal, was El Presidente da drüben sagt, wir sollten mehr über diese Wesen herausfinden. Es gibt viel Wichtigeres, als Torf zu stechen. Wir müssen herausfinden, wie sie leben, wenn wir überleben wollen… Geh zu deiner Freundin, Snowy. Und frag sie, ob sie sich mit uns beiden verabreden will.«

Nach ein paar Tagen, ehe Ahmed seine Pläne zum Wiederaufbau der Zivilisation noch umzusetzen vermochte, wurde er krank. Er musste in seinem Verschlag bleiben und sich von den anderen mit Nahrung und Wasser versorgen lassen.

Sidewise glaubte, dass er sich eine Quecksilbervergiftung zugezogen hatte, die von der Müllhalde herrührte. Quecksilber war seit Jahrhunderten für die Herstellung von allen möglichen Dingen verwendet worden, für Hüte und Spiegel, für Insektenvernichtungsmittel und Arzneien gegen Syphilis. Der Erdboden war wahrscheinlich damit gesättigt, und selbst jetzt, nach tausend Jahren, sickerte das Zeugs noch immer über verschiedene Kanäle in den See, wo es sich über die Nahrungskette in höchster Konzentration in den Fischen und den ›Endverbrauchern‹, den Menschen, ablagerte.

Für Sidewise entbehrte das alles nicht einer gewissen Ironie: dass Ahmed, der große Planer – derjenige, der von ihnen allen am längsten an den expansionistischen Träumen des längst vergangenen einundzwanzigsten Jahrhunderts festgehalten hatte –, dass ausgerechnet er an einer Dosis des Gifts erkrankt war, dem langlebigen Vermächtnis jenes zerstörerischen Zeitalters.

Snowy focht das nicht an. Es gab viel interessantere Dinge auf der Welt als alles, was Ahmed sagte oder tat.

Zum Beispiel Weena und ihre haarigen Gesellen aus dem Wald.

Snowy und Sidewise hatten unweit der Stelle, wo Snowy die erste Begegnung mit dem Affenmädchen gehabt hatte, eine Art Unterstand gebaut: eine Hütte, die aufwändig mit Gras und Laub getarnt worden war.

Snowy schaute auf Sidewise, der sich im Schatten der Hütte ausgestreckt hatte. In der Hitze dieses un-englischen Sommers hatten sie beide sich aller überflüssigen Kleidung entledigt und trugen nur noch Shorts, einen Ausrüstungs-Gürtel und Stiefel. Sidewise hatte sich eine perfekte Einzelkämpfer-Tarnung verpasst. Er war nach dem erst vor ein paar Wochen erfolgten Auszug aus der Grube nicht mehr wieder zu erkennen.

»Dort«, zischte Sidewise.

Schlanke graubraune Gestalten, zwei, drei, vier an der Zahl, lösten sich aus dem Schatten am Waldrand und wagten sich ein paar Schritte ins Freie hinaus. Die schlanken und aufrechten Gestalten waren nackt, aber sie trugen etwas in den Händen: wohl die üblichen primitiven Steinhämmer und Messer. Sie stellten sich in einem lockeren Kreis mit dem Rücken zueinander auf und schauten sich mit ruckartigen Kopfbewegungen um.

Sidewise wäre allerdings nicht Sidewise gewesen, wenn er sich keine Geschichte über den Ursprung dieser kleinen haarigen Leute zurechtgelegt hätte. »Schmuddelkinder«, sagte er. »Wer hat es am längsten in den niedergehenden Städten ausgehalten? Die Schmuddelkinder, die immer schon in der Kanalisation hausten und von Abfällen lebten. Es hat vielleicht Jahre gedauert, bevor sie überhaupt bemerkten, dass etwas sich verändert hatte…«

Nun rannten die Haarigen über die Wiese auf eine am Boden liegende Gestalt zu. Es war ein Hirsch, ein großer Bock, den Snowy und Sidewise mit einer Schleuder erlegt und in der Hoffnung hier abgelegt hatten, die Haarigen aus der Deckung des Waldes zu locken. Die Haarigen scharten sich um den Kadaver. Dann machten sie sich daran, die Hinterläufe vom Körper abzusäbeln. Und während sie stumm arbeiteten, hielt einer Wache und sicherte in alle Richtungen.

»So machen sie das also«, murmelte Snowy. »Sie nehmen die Beine – siehst du?«

»Schnell und unkompliziert«, sagte Sidewise. »So ziemlich die einfachste Art der Fleischerei: Man hacke ein Bein ab und bringe es in den Schutz des Walds, bevor etwas mit längeren Zähnen kommt und einem die Beute streitig macht. Sie arbeiten koordiniert, auch wenn sie dabei nicht sprechen. Siehst du, wie die Wachen sich abwechseln? Sie sind Gruppen-Jäger. Oder zumindest Aasfresser, Ausputzer.«

Snowy fragte sich, weshalb sie so vorsichtig waren, wenn Sidewise Recht hatte und keine großen Räuber in der Nähe waren.

»Sie sehen menschlich aus, aber sie verhalten sich nicht so«, flüsterte Snowy. »Weißt du, was ich meine? Sie verhalten sich nicht wie eine Patrouille. Sie spähen eher wie Katzen oder Vögel.«

Sidewise grunzte. »Diese Schmuddelkinder hatten weder Kultur noch Schule gekannt. Sie waren in der Kanalisation zuhause. Vielleicht haben sie deswegen auch das Reden eingestellt. Vielleicht, weil in der Kanalisation die Tarnung durch Schweigen wichtiger war als Sprache.«

»Sie haben die Sprache verloren?«

»Wieso denn nicht? Es verlieren doch auch ständig Vögel die Fähigkeit zu fliegen. Intelligenz kostet etwas. Selbst ein Spatzenhirn wie deins, Snowy, ist aufwändig; es entzieht dem Körper viel Energie. Vielleicht ist dies eine Welt, wo es weniger auf Intelligenz ankommt als auf die Fähigkeit, schnell zu laufen oder gut zu sehen. Es hat wahrscheinlich nicht viel dazugehört, um die Sprache abzuschalten und sogar das Bewusstsein. Und nun kann das Gehirn schrumpfen. Warte noch hunderttausend Jahre, und sie werden wieder aussehen wie Australopithecinen.«

Snowy schüttelte den Kopf. »Ich hatte immer geglaubt, die Menschen der Zukunft hätten große Wasserköpfe und keine Schwänze mehr.«

Sidewise schaute ihn im Dämmerlicht des Unterstands an. »Die Intelligenz hat uns nicht immer zum Vorteil gereicht, nicht wahr?«, fragte er säuerlich. Er schaute auf die Haarigen und rieb sich das Gesicht. »Da kommt man doch schon ins Grübeln, wenn man die so sieht. Die Zivilisation war nur ein Zwischenspiel. Am Anfang hätte man die Weichen noch zu stellen vermocht: das Ruder herumreißen und die Welt wieder aufbauen. Nun ist die Chance vertan, und wir sind in dieses Stadium zurückgeworfen worden: Wir leben wieder wie Tiere, als ein Tier von vielen in der Ökologie. Eine primitive, unmittelbare Existenz.«

Sie schauten noch eine Weile zu, wie die haarigen, nackten Leute dem toten Hirsch die Beine ausrissen und in den Schutz des Waldes schleppten, wobei sie zusammenarbeiteten und gleichzeitig sich stritten.

Dann kehrten sie ins Basislager zurück.

Wo Bonner Amok lief. Denn Moon war verschwunden.

»Wo, zum Teufel, ist sie?«

Moon hatte sich eine eigene Hütte errichtet, die solider gebaut und geschützter war als die der anderen. Snowy hatte sich immer gesagt, dass sie die Tür bestimmt mit einem Vorhängeschloss gesichert hätte, wenn sie denn eins gehabt hätte. Nun war alles weg – der Rucksack, den Moon aus der Fliegerkombi angefertigt hatte, die Werkzeuge und Kleidung, der hölzerne Kamm und ihr wertvoller Vorrat an auswaschbaren Tampons.

Bonner durchwühlte die Überreste und zertrümmerte die Wände der Hütte. Er war nackt bis auf fadenscheinige Shorts. Mit den starken Muskeln und dem lehmverschmierten Haar, Gesicht und Oberkörper hatte er kaum noch eine Ähnlichkeit mit dem schüchternen jungen Piloten, dessen Snowy sich angenommen hatte, als sie sich auf dem Flug zu einem Flugzeugträger in der Adria zum ersten Mal begegnet waren.

Ahmed kam aus seiner Hütte; er war in eine versilberte Überlebensdecke gewickelt? »Was ist denn hier los?«

»Sie ist weg. Sie ist einfach abgehauen!«, tobte Bonner.