Nach ein paar Monaten, als der lange Sommer dieser Zeit schließlich zu Ende ging, kamen sie an einen Strand. Snowy wähnte sich irgendwo an der Küste von Sussex in Südengland.
Die Haarigen suchten am Waldrand nach Nahrung und ignorierten Snowy wie gewöhnlich.
Snowy wanderte am Strand entlang. Der Wald erstreckte sich bis hinunter zur Küste, als ob er sich auf einer tropischen Insel befände und nicht in England. Dann setzte er sich hin und schaute auf die Brandung.
Er ließ eine Hand voll feinen, goldenen Sands durch die Finger rieseln. Der Sand enthielt aber auch schwarze Körner und orange, grüne und blaue Partikel. Das bunte Zeug musste Plastik sein. Und das schwarze Zeug sah aus wie Ruß – Ruß von Rabaul, dem Killer-Vulkan, oder von den Bränden, die über die Welt hinweggefegt waren, als alles den Bach hinunterging.
Es ist alles weg, sagte er sich staunend. Es ist wirklich alles weg. Der Sand war ein Indiz. Mondgestein, Kathedralen und Fußballstadien, Büchereien, Museen und Gemälde, Straßen, Städte und Dörfer. Shakespeare, Mozart und Einstein, Buddha, Mohammed und Jesus, Löwen und Elefanten, Pferde und Gorillas und der Rest der Menagerie der Ausrottung – alles zerstört, zerstreut und zermahlen und in diesem rußigen Sand vermischt, der ihm durch die Finger rieselte.
Die Haarigen verschwanden. Er sah ihre schlanken Gestalten im Wald untertauchen.
Er stand auf, klopfte sich den Sand von den Händen, hängte sich den Rucksack über den Rücken und folgte ihnen.
KAPITEL 18
Das Königreich der Ratten
Ostafrika, ca. 30 Millionen Jahre in der Zukunft
I
Der Asteroid hatte früher den Namen Eros getragen.
Eros hatte seine eigene kleine Geographie. Die Oberfläche war mit Einschlagkratern übersät, mit Schutt und Trümmern und seltsamen Pools sehr feinen bläulichen Staubs, der vom gnadenlosen Sonnenlicht elektrisch aufgeladen wurde. Er war dreimal so lang wie breit und sah aus wie Manhattan Island, das in den Weltraum geschleudert worden war.
Eros war so alt wie der Teufelsschweif. Wie der Chicxulub-Komet war auch er ein Überbleibsel aus der Entstehung des Sonnensystems selbst. Doch im Gegensatz zum Kometen war der Asteroid im Bereich des inneren Systems entstanden, genauer gesagt: innerhalb des Jupiter-Orbits. In der Frühzeit des Sonnensystems hatten chaotische Verhältnisse geherrscht, als die jungen Asteroiden auf ihren erratischen Orbits ineinander gekracht waren. Die meisten waren zu Staubwolken zertrümmert, in den großen Schlund des Jupiter geschleudert worden oder ins überfüllte und gefährliche innere System. Die Überlebenden liefen in deutlich reduzierten Schwärmen auf ordentlichen Orbits um die immer heller strahlende Sonne.
Doch selbst jetzt oszillierten die Asteroiden-Orbits noch wie angeschlagene Saiten unter dem geisterhaften Zug der Gravitation.
Sie tauchte zögernd ins Tageslicht auf.
Sie hatte wieder schlecht geträumt. Sie war benommen, und die Glieder waren steif. Durchs primitive Dach des Baumwipfel-Nests sah sie das Grün der höheren Baumkronen und Ausschnitte des hellblauen tropischen Himmels. Wie die Unterlage unter ihrem Körper war das Dach nur ein Geflecht aus kleinen Ästen, Zweigen und Laub, das sie in den letzten Stunden vor der Dunkelheit hastig hergerichtet hatte. Und das sie auch bald wieder aufgeben würde.
Sie lag auf dem Rücken, den rechten Arm wie ein Kissen unter den Kopf geschoben, und die Beine an den Bauch gezogen. Ihr nackter Körper war mit einem goldenen Haarflaum bedeckt. Im Alter von fünfzehn Jahren war sie in der Blüte ihres Lebens. Schwangerschaftsstreifen am Bauch und die kleinen Brüste zeigten, dass sie schon ein Kind geboren hatte. Ihre schlafverkrusteten Augen waren groß, schwarz und wachsam: Ausweis einer langsamen Rückanpassung ans nachtaktive Leben. Hinter den Augen ging die flache Stirn in eine kleine Gehirnschale über, deren sanfte Wölbung von einem dunklen lockigen Haarschopf kaschiert wurde.
Ein Teil von ihr schlief nie tief und fest, egal wie gemütlich die Nester auch waren. Im Traum wurde sie immer von den Tiefen unter ihr geängstigt, in die sie vielleicht stürzte. Weil die Baumwipfel der einzig sichere Ort für ihre Leute waren, ergab das zwar keinen Sinn, aber so war es nun einmal. Die Leute würden noch einige Zeit brauchen, um in den Bäumen wieder richtig heimisch zu werden.
Erschwerend kam hinzu, dass ihr bisher einziges Kind von dieser grünen Tiefe unter ihr verschlungen worden war, als es an ihrem regennassen Pelz den Halt verloren hatte und der kleine Körper hinab gestürzt war.
Sie hatte nie mit jemandem darüber gesprochen. Die Leute sprachen gar nicht mehr miteinander. Die Zeiten des endlosen Geredes waren lang vorbei, der Kehlkopf und die kognitiven Kapazitäten eines geschwätzigen Volks waren abgelegt worden, denn sie wurden für ein Leben in den Bäumen nicht gebraucht.
Sie hatte nicht einmal einen Namen. Doch vielleicht schlummerte irgendwo tief in ihr noch eine Erinnerung an andere, längst vergangene Zeiten. Also nennen wir sie Erinnerung.
Sie hörte ein Rascheln in den Laubschicht unter sich, das Geräusch von Fruchtschalen, die durch die Blätter fielen und die ersten zögerlichen, erstickten Rufe der Männchen.
Sie rollte sich auf den Bauch und presste das Gesicht ins Bett aus Zweigen. Sie machte schemenhaft die Kolonie aus, eine dunkle Masse, die in den tieferen Schichten des Blattwerks hing wie ein hölzernes U-Boot, das irgendwie in den Bäumen aufgehängt worden war. Die Kolonie erwachte zum Leben, und überall bewegten, arbeiteten und zankten sich schlanke Gestalten. Man begann wieder mit den alltäglichen Verrichtungen. Und es war nicht ratsam, zu spät zu kommen.
Erinnerung stand auf und brach aus dem Nest, wie ein Vogel aus dem Ei schlüpft. Nachdem sie sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter aufgerichtet hatte, schwenkte sie den kleinen Kopf und ließ den Blick durch ihre Welt schweifen.
Der Wald war eine Rhapsodie in Grün. Die Kronen der höchsten Bäume bildeten ein Dach hoch über ihrem Standort. Im Norden, Westen und Osten vermochte Erinnerung jenseits der Bäume ein blaues Glitzern auszumachen. Das vom Meer reflektierte Licht hatte sie immer schon fasziniert. Und obwohl sie die südliche Küste nicht zu erkennen vermochte, hatte sie trotzdem das intuitiv richtige Gefühl, dass das Meer sich dort fortsetzte, und das Land wie ein breiter Gürtel umschloss: Sie wusste, dass sie auf einer großen Insel lebte. Aber das Meer war nicht von Belang, denn es war zu weit entfernt, als dass sie davon betroffen gewesen wäre.
Dieses besonders dichte Waldstück war aus einer Spalte gesprossen, die tief ins Urgestein einschnitt. Dieser von massiven Gesteinswänden geschützte und von Bächen, die durch die Schlucht verliefen, gespeiste Ort wimmelte nur so von Leben, obwohl es hier und da auch kahle Stellen gab, die von Borametz-Bäumen und ihren Parasiten, einer neuen Lebensform, erobert worden waren.
Die Schlucht war aber nicht natürlichen Ursprungs. Sie war von langer Zeit aus dem Urgestein gesprengt worden und stellte ein Resultat menschlicher Straßenbautätigkeit dar.
Die Erosion hatte aber ihren Tribut gefordert: Als die Entwässerungsgräben und Abwasserkanäle nicht mehr instand gehalten wurden, waren die Wände kollabiert. Trotzdem hätte ein aufmerksamer Geologe eine feine dunkle Schicht im Sandstein entdeckt, die am Grund der Schlucht sich abgelagert hatte. Dabei handelte es sich um halb zersetztes Bitumen, eine Schicht, die hie und da noch Fragmente von Fahrzeugen enthielt, die einst hier entlang gefahren waren.
Selbst jetzt hinterließen die Menschen noch ihre Spuren.