Ein Schatten, von der tief stehenden Sonne geworfen, huschte lautlos über die raschelnden Blätter hinweg. Es war natürlich ein Vogel gewesen. Die Räuber in den oberen Etagen waren schon wach, hielten sich aber bedeckt.
Mit einem letzten Blick auf das ruinierte Nest, das mit Kot, Haaren und Urin besudelt war und das sie schon in ein paar Minuten vergessen haben würde, machte sie sich an den Abstieg.
Als der tropische Tag anbrach, waren die Leute schon zwischen den Bäumen ausgeschwärmt und machten sich auf die mühsame Suche nach Früchten, unter der Baumrinde lebenden Insekten und Wasserreservoirs in Blütenkelchen.
Erinnerung hatte aber keine Lust dazu; sie blieb zurück und schaute den anderen zu.
Es gab Männchen und Weibchen gleichermaßen, wobei ein paar Weibchen Kinder mit sich herumtrugen. Die Männchen machten Mätzchen, stießen aggressive Rufe aus und ergingen sich in Drohgebärden. Das war etwas, das sich im Lauf der Zeit nicht geändert hatte: Die Struktur der Primaten-Gesellschaft war noch immer die gleiche, eine Macho-Hierarchie, die einem Netzwerk duldsamer weiblicher Clans übergeordnet war.
In diesen mittleren Schichten des Waldes wuchsen die größeren Bäume über die Kronen der kleineren hinaus. An diesem Ort, der weder allzu tief noch allzu hoch war, waren die Leute vor den oben und unten lauernden Gefahren relativ sicher. Und hier, umgeben von den hohen, schlanken Stämmen der großen Bäume, hatten sie ihre Kolonie errichtet.
Es war eine etwa zehn Meter durchmessende Kugel. Die dicke Wand bestand aus zusammengepressten Zweigen und Laub. Die Blätter waren durch Kauen weich gemacht worden, bevor man sie in die Ritzen des Gebildes gestopft hatte. Das Ganze war dann fest in den Gabeln der robusten Äste des Baums verankert worden, in dem es über Generationen hinweg gebaut worden war. Und es war bewohnt: Ein stetiger Strom aus Kot und Urin floss am Baumstamm hinab, und auch andere Flüssigkeiten tropften aus den Öffnungen, mit denen die Basis der Kolonie perforiert war.
Diese Kugel aus Speichel und Zweigen war die anspruchsvollste Konstruktion, zu der die Menschenabkömmlinge überhaupt in der Lage waren. Aber sie war das Resultat des Instinkts, nicht des Bewusstseins. Bewusste Planung lag ihr genauso wenig zugrunde wie einem Vogelnest oder einem Termitenhügel.
Erinnerung sah kleine Gesichter, die furchtsam durch Lücken in der primitiven Wand der Kolonie lugten. Sie erinnerte sich an die Zeit, die sie mit ihrem Kind in diesen feuchten, übel riechenden Wänden verbracht hatte. Der eigentliche Zweck der Kolonie bestand nämlich darin, die verwundbarsten Mitglieder der Gemeinschaft vor den Räubern des Waldes zu schützen: Nachts versammelten die Jungen, die Alten und die Kranken sich in ihren Wänden. Doch nur die kleinsten Kinder und ihre Mütter durften auch tagsüber in ihrem Schutz verweilen, während der Rest sich ins Freie hinauswagte, um Nahrung zu sammeln.
Und als das vom Blätterdach gefilterte Sonnenlicht auf die Kolonie fiel, funkelten die Wände. Ins Geflecht aus Zweigen und Blättern waren helle Steine eingebettet, die man vom Waldboden aufgesammelt hatte. Es waren sogar Glassplitter darunter. Im Lauf von Jahrmillionen wurde Glas instabil und milchig, während sich winzige Kristalle daran bildeten. Trotzdem hatten diese Splitter ihre Form behalten – Reste von Windschutzscheiben, Heckleuchten und Flaschen, die nun die Wände dieses formlosen Bauwerks zierten.
Es sah zwar aus wie eine Zierde, aber es war keine. Das Glas und die glitzernden Steine dienten der Verteidigung. Selbst jetzt noch vermochten diese Leute durch Gebäude Räuber abzuhalten – sie wurden von den tief verwurzelten Instinkten verjagt, die sie in der Zeit der gefährlichsten Killer entwickelt hatten, die jemals auf der Erde gelebt hatten. Also imitierten die Menschenabkömmlinge Strukturen ihrer Vorfahren, ohne dass sie sich auch nur vorzustellen vermochten, was sie da imitierten.
Einst waren die Bäume natürlich das Reich von Primaten gewesen, wo sie ohne Furcht vor Räubern umherzustreifen vermochten. Affen und Menschenaffen hatten keine Festungen aus Laub und Zweigen gebraucht. Die Zeiten hatten sich geändert.
Ein junges Männchen zischte die herumlungernde Erinnerung an. Er hatte einen seltsamen weißen Fleck auf dem Rückenpelz, sodass er fast wie ein Kaninchen aussah. Sie erriet seine Gedanken: Er glaubte, dass sie es auf die Rinde abgesehen hatte, die er mit seiner Mutter und den Geschwistern bearbeitete. Obwohl die Leute lang nicht mehr so intelligent wie ihre Vorfahren waren, vermochte Erinnerung immer noch die Überzeugung und Absichten anderer zu erkennen.
Weiß-Flecks Rudel war heute jedoch geschwächt. Seit Erinnerung sie zuletzt gesehen hatte, war ihr ältester Sohn verschwunden. Er hatte sich vielleicht auf die Suche nach einer anderen Kolonie gemacht, die irgendwo in den grünen Tiefen des Walds hing. Oder vielleicht war er auch tot. In der Art und Weise, wie sie über die Schulter ins Leere schauten und Platz für ein großes Männchen ließen, das nie mehr kommen würde, zeigten die Familienangehörigen, dass sie sich über den Verlust eines der ihren sehr wohl im Klaren waren. Doch bald würde die Erinnerung verblassen und der Bruder im Nebel der Vergangenheit verschwinden, verloren wie alle Menschenkinder seit der Errichtung des letzten Grabsteins.
Erinnerung würde nie erfahren, was aus dem anderen Sohn geworden war. Dies war kein Zeitalter der Information. Heute tauschten die Leute sich nicht mehr aus. Sie wusste nur das mit Sicherheit, was sie mit eigenen Augen sah.
Trotzdem war das eine Gelegenheit für Erinnerung. Sie hätte dieser geschwächten Gruppe wahrscheinlich einen Platz auf ihrem Baumstamm abzutrotzen vermocht. Doch sie hatte schlecht geschlafen und fühlte sich schwach und rastlos. Von dieser Befindlichkeit wurde sie seit dem Verlust ihres Kindes geplagt. Der Tod des Kindes lag nun schon über ein Jahr zurück, doch der Schmerz war noch so frisch, und das Ereignis in ihrem kaleidoskopartigen, unstrukturierten Bewusstsein noch so präsent, als ob es erst gestern gewesen wäre. Wie all ihre Artgenossen war Erinnerung kein Geschöpf zielgerichteter Planung, sondern impulsiver Handlungen. Und heute verspürte sie nicht den Impuls, von diesen sich zankenden Leuten das Privileg eines Platzes auf ihrem überfüllten Ast zu erkämpfen oder auf der Suche nach Insekten Rinde abzuschälen.
Sie wandte sich ab und bahnte sich einen Weg durch das Astgewirr.
Während sie sich von Ast zu Ast schwang und kletterte, fühlte sie sich ein wenig besser. Die steifen Muskeln wurden schnell geschmeidiger, und sie hatte das Gefühl, richtig wach zu werden. Sie vergaß sogar für kurze Zeit den Verlust ihres Kindes. Sie war noch immer jung – ihre Art erreichte oft ein Lebensalter von fünfundzwanzig oder sogar dreißig Jahren. Und lang nachdem ein entfernter Vorfahr verwirrt aus einer Kanalisation ins ergrünende Tageslicht gekrochen war, war ihr Körper gut an ihre Lebensweise angepasst, auch wenn sie ihr noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen war.
Als sie nun mit affenartiger Geschwindigkeit durch den Wald huschte, kam eine Art Freude in ihr auf. Wieso auch nicht? Der Verlust war groß, aber das machte keinen Unterschied für Erinnerung. Der kurze Moment im Licht war hier und jetzt, und den wollte sie auch auskosten. Während sie sich durchs Zwielicht des Walds schwang, bleckte sie die Zähne und stieß ein lautes Lachen aus. Das war ein Reflex, den die Kinder der Menschheit nie verloren hatten, obwohl auf dem heilenden Antlitz der Erde schon dreißig Millionen Sommer aufgeflackert und wieder vergangen waren.
Erinnerungs tropischer Wald war Teil eines großen Gürtels, der sich um den Äquator zog, ein Gürtel, der nur von Meeren und Bergen durchbrochen wurde. Die Wälder waren üppig, obwohl es nach dem zügellosen Kahlschlag der Menschen Jahrtausende gedauert hatte, bis sie etwas vom früheren Reichtum zurück gewonnen hatten.
Die neu entstandene, von Wald geprägte Welt hatte wenig Lebensraum für die Nachfahren der Menschheit gelassen. Also hatten Erinnerungs Vorfahren den Erdboden verlassen und sich wieder ins grüne Reich der Baumwipfel hinauf geschwungenen. Doch es hatte hier schon Primaten gegeben: Affen, deren Vorfahren den verhungernden Menschen in den letzten Tagen entkommen waren, Überlebende des großen Auslöschungs-Ereignisses. Zuerst waren die Menschenabkömmlinge unbeholfener als die Affen. Aber sie waren noch immer intelligent, zumindest halbwegs – und sie waren verzweifelt. Bald hatten sie das Werk der Vernichtung vollendet, das ihre Vorväter nicht erledigt hatten.