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Danach hatten sie sich vermehrt. Aber der Druck, der sie vom Erdboden vertrieben hatte, wirkte weiter auf sie.

Erinnerung wusste von alledem natürlich nichts, und doch hatte sie ein molekulares Gedächtnis, eine ununterbrochene, ›durchgezogene‹ Linie eines genetischen Erbes, die sich bis zu den verschwundenen Leuten erstreckte, die die Straße aus dem Gestein gesprengt hatten – und noch viel weiter zurück in noch viel entferntere Zeiten, als Geschöpfe, die Erinnerung glichen, auf Bäume geklettert waren, die diesen Bäumen glichen.

Sie verharrte auf einem Ast, der mit großen roten Früchten beladen war. Sie duckte sich auf dem Ast und machte sich über die Früchte her. Sie schälte sie, schlürfte den fruchtigen Inhalt und ließ die Schalen in die Dunkelheit unter sich fallen. Doch während sie aß, saß sie mit dem Rücken zum Baumstamm, spähte furchtsam in den Schatten und machte schnelle und hektische Bewegungen.

Trotz ihrer Wachsamkeit wurde sie von einer Schale aufgeschreckt, die sie am Hinterkopf traf.

Sie presste sich gegen den Baumstamm und schaute auf. Nun sah sie, dass die Äste über ihr mit etwas Schwerem behängt waren, das wie Früchte aussah. Dicke, dunkle Gebilde hingen herab. Doch diese ›Früchte‹ waren Arme und Beine, Köpfe und funkelnde Augen und geschickte Hände, die sie mit Schalen, Rindenstücken und Zweigen bewarfen. Sie hatten wahrscheinlich auf der Lauer gelegen, als sie sich näherte und dann lautlos Stellung bezogen. Nun bewarfen sie sie sogar mit warmen Kotfladen.

Und dann ging das Geschnatter los. Es war ein lautes, unartikuliertes Geschnatter, das ihr in den Ohren hallte und ihr die Orientierung raubte – was auch beabsichtigt war. Sie kauerte sich in der Astgabel zusammen und presste die Hände auf die Ohren.

Die Schnatternden Leute waren Verwandte von Erinnerungs Art. Sie waren auch einmal Menschen gewesen. Aber die Schnatternden lebten anderes. Sie waren gemeinschaftliche Jäger. Sie alle, von den kaum entwöhnten Jungen aufwärts, arbeiteten mit einer kalten, instinktiven Disziplin, um Beute zur Strecke zu bringen oder Räuber zu bekämpfen. Die Strategie funktionierte auch: Erinnerung hatte schon einige von ihrer Art vor dieser Baum-Armee fallen sehen.

Trotz ihrer unterschiedlichen Lebensweise wären die zwei Arten von Menschenabkömmlingen bis vor ein paar Millionen Jahren noch in der Lage gewesen, sich zu kreuzen; obwohl der Nachwuchs dann unfruchtbar gewesen wäre. Inzwischen war das jedoch unmöglich. Es war eine Speziation eingetreten, eine von vielen. Für die Schnatternden Leute war Erinnerung keine Verwandte mehr, sondern eine potenzielle Bedrohung – oder eine Mahlzeit.

Sie war abgeschnitten. Jeder Ast schien von einem der Schnatternden besetzt sein. Sie vermochte nicht an ihnen vorbeizukommen und sich in den Schutz eines anderen Baums zu flüchten. Es gab nur einen Ausweg: Sie musste von diesem Baum hinunterklettern und über den Erdboden laufen.

Sie zögerte nicht. Sie rutschte vom Baum hinunter, wobei sie sich über weite Strecken fallen ließ und auf ihre Reflexe vertrauend sich kurz an Ästen festhielt, um den Fall zu bremsen. So gelangte sie in die dunkleren Bereiche über dem Waldboden.

Zuerst verfolgten die Schnatternden sie noch und deckten sie mit einem Hagel aus Früchten und Kot ein, der gegen die Rinde klatschte. Sie hörte, wie sie vom Baum ausschwärmten, auf dem sie sie umzingelt hatten und ihren nutzlosen Triumph herausschnatterten und schrien.

Schließlich hatte sie den Boden erreicht. Sie peilte einen ein paar Hundert Meter entfernten Baum an, der vielleicht so weit von den Schnatternden entfernt war, dass sie über ihn sicher wieder unters Blätterdach zu gelangen vermochte.

Sie richtete sich auf und ging mit großen, wachsamen Augen weiter.

Erinnerung hatte schmale Hüften und lange Beine, Relikte aus der Zeit, als die auf dem Boden lebenden Savannen-Affen auf zwei Beinen gegangen waren. Sie war jedoch aufrechter, als die Schimpansen es je gewesen waren, sogar aufrechter als Capos Leute. Doch selbst beim aufrechten Gang waren die Beine leicht gebogen und der Kopf nach vorn gereckt. Die Schultern waren schmal, die Arme lang und kräftig, und die Füße waren lang und mit beweglichen Zehen besetzt – eine gute Ausstattung fürs Klettern, Festklammern und Springen. Das Leben auf den Bäumen hatte ihre Art geformt: Die Selektion hatte auf uralte Muster zurückgegriffen, die zwar stark modifiziert waren, in den Grundzügen jedoch unverändert.

Sie fühlte sich unwohl auf dem Boden. Wenn sie nach oben schaute, sah sie Schichten aus Blattwerk und Bäume, die um die Leben spendende Energie der Sonne wetteiferten und kaum einen Lichtstrahl durchließen. Es war, als ob sie auf eine andere Welt geschaut hätte, eine dreidimensionale Stadt.

Der Waldboden war ein dunkler, feuchter Ort. Büsche, Kräuter und Pilze wuchsen im ewigen Dämmerlicht. Obwohl Blätter und anderer Abfall in einem steten, langsamen Regen von den grünen Galerien herabrieselten, war der Boden nur mit einer dünnen Schicht bedeckt: Die Ameisen und Termiten, deren Hügel wie verwitterte Monumente auf dem Boden herumstanden, sorgten dafür, dass der Schutt nicht überhand nahm.

Sie kam zu einem großen Pilz, blieb stehen und stopfte sich das leckere weiße Fleisch in den Mund. Sie hatte an diesem Tag fast noch nichts gegessen und auf der Flucht vor den Schnatternden viel Energie verbraucht.

Hinter einer Gruppe dürrer Schösslinge schlich etwas durch die Schatten: große Gestalten, die grunzten und im Dreck schnüffelten. Erinnerung ging hinter dem Pilz in Deckung.

Die Kreaturen traten aus dem Schatten, und ihre trüben Silhouetten zeichnen sich im graugrünen Zwielicht ab. Sie hatten massige, behaarte Leiber, plumpe Köpfe und kurze Rüssel, mit denen sie den Boden aufscharrten und Laub und Früchte von den unteren Ästen der Bäume pflückten. Mit einer Schulterhöhe von zwei Metern wirkten sie wie Waldelefanten, obwohl sie keine Stoßzähne hatten.

Die kleinen spitzen Ohren und seltsamen geringelten Schwänze verrieten die Herkunft dieser Pflanzenfresser. Das waren Schweine, die von einer der Spezies abstammten, die die Menschheit domestiziert hatte, um die große Vernichtung zu überleben. Und die nun diese effiziente Gestalt angenommen hatten. Die letzten echten Elefanten waren zusammen mit den Menschen untergegangen.

Noch mehr große, haarige Kreaturen wuchteten sich in Erinnerungs Blickfeld. Sie hatten auch eine elefantenartige Gestalt und die gleiche Größe und Form wie die Schweine. Doch wo die Schweine Rüssel, aber keine Stoßzähne hatten, hatten diese Tiere keine Rüssel, sondern geschwungene Hörner vorm Gesicht, die dem Zweck dienten, den die Stoßzähne der Elefanten einst erfüllt hatten – den Erdboden umpflügen und Wurzeln und Knollen ausgraben. Diese Tiere waren aggressiver als die Schweine und entstammten einem anderen ›Generalisten‹ und Überlebenskünstler menschlicher Bauernhöfe, den Ziegen.

Die beiden Arten von Pflanzenfressern, Schweins- und Ziegen-Elefanten, pflügten den Boden um. Sie waren so verschieden, dass sie sich keine Konkurrenz machten, und schauten hochmütig über die Präsenz der jeweils anderen hinweg. Erinnerung blieb in Deckung und wartete auf eine Gelegenheit, sich von diesen mutierten Abkömmlingen einstiger Nutztiere abzusetzen.

Und dann spürte sie einen Atem im Nacken: einen warmen Hauch und den eitrigen Gestank von Fleisch.

Instinktiv hechtete sie vorwärts. Sie ignorierte die elefantenartigen Schweine und Ziegen und rannte, bis sie einen Baumstamm erreichte. Sie erklomm ihn und klammerte sich an der schorfigen Rinde fest. Sie zögerte keinen einzigen Moment, wandte nicht einmal den Kopf, um zu schauen, was sich da an sie herangeschlichen hatte.