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Aber sie nahm es flüchtig wahr. Es war eine Kreatur von der Größe eines Leoparden mit roten Augen, langen Gliedmaßen, beweglichen Pfoten und kräftigen Schneidezähnen.

Sie wusste, was das war. Es war eine Ratte. Wenn man eine Ratte auch nur roch, rannte man sofort davon.

Aber die Ratte folgte ihr.

Um ihre kletternde Beute zu verfolgen, hatte die Art der Ratten-Leoparden auch das Klettern erlernt. Der Ratten-Leopard hatte Klauen mit beweglichen Fingern, um Äste zu packen, Vorderläufe, die er weit zu spreizen vermochte, um von Ast zu Ast zu springen und sogar einen Greifschwanz. Er war kein so guter Kletterer wie die besten Primaten, zum Beispiel Erinnerung. Noch nicht. Aber er musste auch gar nicht der Beste sein. Er musste nur besser sein als der Schlechteste, der Schwächste und der Kränkste – und mehr Glück haben als ein Pechvogel.

Und so stieg Erinnerung immer höher ins fahle Grün des oberen Blattwerks empor, wobei sie den stechenden Schmerz in der Lunge und in den Armen ignorierte. Bald wurde sie vom Licht geblendet. Sie erreichte die obersten Baumkronen. Aber sie kletterte immer weiter, denn sie hatte keine andere Wahl.

Bis sie ins offene Tageslicht platzte.

Sie taumelte fast, so plötzlich war sie aus dem Grün gebrochen. Sie klammerte sich an einen dünnen Ast, der bedenklich unter ihr schwankte; er war mit grünen Blättern besetzt, die in Sonnenlicht gebadet wurden.

Sie saß auf einem der obersten Äste des hohen Baums. Die Baumwipfel waren eine grüne Decke, die sich bis zum Meer erstreckte. Doch sie machte auch die felsige Erhebung der Schlucht aus, in der ihr dichtes Waldstück wuchs – die uralte Straße ihrer Vorfahren. Sie war am Ende des Wegs angelangt. Sie schnaufte erschöpft und zitterte am ganzen Leib; sie vermochte sich nur noch an diesen dünnen Ast zu klammern. Die Sonne brannte heiß auf sie herab. Im Gegensatz zu ihrem fernen Vorfahren war sie nicht für offenes Gelände geschaffen: Ihre Art hatte die Fähigkeit zu schwitzen verloren.

Wenigstens verfolgte die Ratte sie nicht mehr. Sie glaubte, ihre blutunterlaufenen, funkelnden Augen gesehen zu haben, bevor sie wieder im Zwielicht des Walds verschwand.

Für einen Moment gab sie sich dem Überschwang hin. Sie warf den Kopf zurück und stieß einen Freudenschrei aus.

Vielleicht hatte sie sich damit verraten.

Sie spürte zuerst einen Lufthauch. Dann hörte sie ein fast metallisches Rascheln von Federn, und ein Schatten stieß auf sie herab.

Klauen bohrten sich ihr tief in die Schultern. Der Schmerz drohte sie sofort zu überwältigen – und er wurde noch schlimmer, als sie von diesen Klauen emporgehoben wurde, wobei ihr ganzes Gewicht an der aufgerissenen Schulter hing. Sie flog. Sie sah, wie das Land unter ihr wirbelte, Ausschnitte des Walds, Fetzen von grünem Grasland und braunen Borametz-Hainen, die von einer zerklüfteten, erodierten vulkanischen Landschaft unterlegt wurden, und diesen Gürtel aus schimmerndem Meer im Hintergrund.

In Erinnerungs Welt gab es sowohl am Boden als auch am Himmel wilde Räuber, die einen wie rote Mäuler umzingelten und nur darauf warteten, den kleinsten Fehler zu ahnden. Sie war vom Regen in die Taufe geraten.

Der Vogel war wie eine Kreuzung zwischen einer Eule und einem Adler; er hatte einen gelben Schnabel und runde, nach vorn gerichtete Augen, die für Vorstöße ins Dämmerlicht der Baumkronen angepasst waren. Aber er war weder eine Eule noch ein Adler. Dieser grausame Killer stammte vielmehr von den Finken ab, die auch weit verbreitete Generalisten und Überlebenskünstler nach der menschlichen Katastrophe waren.

Der Fink flog mit ihr auf einen Komplex vulkanischer Erhebungen zu, die erodierten Kerne uralter Vulkane. Der mit Schutt übersäte Boden war mit Gras bewachsen und mit vereinzelten braunen Borametz-Hainen durchsetzt. Und auf hohen Felsvorsprüngen erhaschte Erinnerung einen Blick auf Nester: Nester voller rosiger, klaffender Münder.

Sie wusste, was geschehen würde, falls der Fink sie in sein Nest trug.

Sie setzte sich schreiend zur Wehr und schlug dem Vogel mit den Fäusten gegen die Beine und in den Bauch. Während des Kampfes rissen die Schultern weiter auf, in die die Klauen sich gegraben hatten, und Blut strömte an ihr herab. Doch sie ignorierte die Wellen quälenden Schmerzes.

Der Fink kreischte zornig und schlug mit den Schwingen; die öligen Federn trafen sie am Kopf und Rücken. Sie roch den metallischen Gestank des blutverkrusteten großen Schnabels. Aber sie war ein zu großer Brocken, selbst für diesen riesigen Vogel. Hominide und Vogel waren in einen Luftkampf verwickelt, wobei der Vogel ständig an Höhe verlor. Dann schlug sie die Zähne ins weiche Fleisch über den schuppigen Klauen des Vogels. Der Vogel kreischte und verkrampfte sich. Die Klauen öffneten sich.

… Und sie fiel in plötzliche Stille. Das einzige Geräusch war ihr stoßweise gehender Atem und der pfeifende Luftstrom. Sie sah den Vogel noch als wirbelnden Schatten über sich, der schnell zurückfiel. Sie streckte die Hände nach Ästen oder Zweigen aus, aber da war nichts, woran sie sich festzuhalten vermochte.

Wo ihr schlimmster Albtraum des Falls nun Wirklichkeit geworden war, fürchtete sie sich eigenartigerweise nicht mehr. Sie harrte der Dinge, die da kommen würden.

Sie krachte in einen Baum. Blätter und Zweige peitschten sie, als sie durch den Wipfel brach. Doch das Blattwerk bremste sie ab, und schließlich landete sie auf dem mit Gras bewachsenen Boden. Sie war zwar zerschlagen und derangiert, aber nicht ernstlich verletzt. Für eine Weile vermochte sie sich nicht zu bewegen.

Bei einem Menschen hätte der Schock tiefer gesessen. Wer war für diese Pechsträhne verantwortlich? Die Ratte, der Raubvogel, ein Feind, der mich verfluchte hatte, oder ein bösartiger Gott? Wieso war dies geschehen? Wieso gerade ich? Doch Erinnerung stellte sich solche Fragen nicht. Für Erinnerung war das Leben nicht etwas, das man zu kontrollieren vermochte. Das Leben war lediglich eine Abfolge zufälliger und sinnloser Episoden.

So stellte sich die Situation nun dar für die Leute. Man lebte nicht lang. Man hatte keine Möglichkeit, die Welt um sich herum zu formen. Die Gedanken kreisten um das Hier und Heute: ums Atmen, um die nächste Mahlzeit, um die Flucht vorm nächsten Räuber, dem man über den Weg lief.

Man musste die Dinge einfach auf sich zukommen lassen.

Als sie wieder zu Atem gekommen war, rollte sie sich auf alle viere und huschte in den Schatten des Baums, der ihren Fall gebremst hatte.

II

Erinnerungs Zeit hätte man als das Zeitalter des Atlantiks bezeichnen können.

Seit dem Untergang der Menschheit hatte der chtonische Tanz der Kontinente sich fortgesetzt. Das große Meer, das vor über zweihundert Millionen Jahren als ein Riss in Pangäa entstanden war, wurde in dem Maß breiter, wie neuer Meeresboden entlang der Linie des mittelozeanischen Bergrückens hervorquoll. Der amerikanische Doppelkontinent war in westlicher Richtung abgedriftet, und Südamerika hatte sich vom Norden wieder gelöst und seine unterbrochene Karriere als Inselkontinent wieder aufgenommen. In der Zwischenzeit war die Ansammlung von Kontinenten um Asien nach Osten gedriftet, sodass der Pazifik sich langsam schloss. Alaska hatte sich mit Asien vereinigt, und die Beringstraßen-Brücke, die während der Eiszeiten wiederholt entstanden und zerbrochen war, wurde wiederhergestellt.

Es hatten gewaltige, lang anhaltende Zusammenstöße stattgefunden. Australien war so weit nach Norden gewandert, bis es Asien gerammt hatte, und Afrika war mit Südeuropa zusammengestoßen. Es war, als ob die Kontinente sich in der nördlichen Hemisphäre zusammendrängten und den Süden bis aufs einsame, eisige Antarktika sich selbst überließen. Und Afrika selbst war auch auseinander gebrochen, als die klaffende Wunde des uralten Rift Valley sich vertieft hatte.