Die Dämmerung setzte ein. Erinnerung fand einen anderen Akazienhain und kroch vorsichtig in die Äste des höchsten Baums. Das musste genügen. Wenigstens war sie vom Erdboden weg.
Als das Licht erlosch, erschienen die Sterne – aber es war ein überfüllter Himmel. Die Sonne, die ihre endlosen Kreise durch die Galaxie zog, lief nun durch einen Fetzen aus interstellarem Staub und Gas, einen Fetzen, der so groß war, dass er Lichtjahre umspannte. Menschliche Astronomen hatten das schon kommen sehen. Er war die Vorhut einer riesigen Blase, die von einer uralten Supernova-Explosion ins Gas geblasen worden war, und ihr Zentrum war eine Region der Sternentstehung. Und so war der neue Himmel spektakulär und voller heller, heißer neuer Sterne.
Jedoch gab es niemanden auf der Erde, der dieses Bild zu deuten vermocht hätte. Erinnerung verbrachte eine schlaflose Nacht und lauschte dem Quieken, den Trommelschlägen und dem Brüllen der Räuber, derweil namenlose Sternbilder über den Himmel zogen.
III
Die ersten paar Hundert Asteroiden, die die Astronomen entdeckten, waren in ihrem ordentlichen Gürtel zwischen Mars und Jupiter umgelaufen und hatten einen ausreichenden Sicherheitsabstand zur Erde eingehalten. Diese Weltraum-Felsbrocken waren eine Kuriosität gewesen und nur eine theoretische Hausforderung für diejenigen, die den Ursprung des Sonnensystems studierten.
Die Entdeckung von Eros war freilich ein Schock gewesen.
Man stellte fest, dass er innerhalb des Mars-Orbits umlief – im erdnächsten Punkt betrug der Abstand zur Erde weniger als ein Viertel der größten Annäherung zwischen Mars und Erde. Später wurden noch mehr Asteroiden gefunden, die den Orbit der Erde sogar schnitten und dadurch Kandidaten für eine eventuelle Kollision mit dem Planeten wurden.
Eros, dieser erste Irrläufer, war nie vergessen worden. Solange die Menschen sich mit solchen Dingen beschäftigten, war der Asteroid eine Art stummer Held seiner Art und ›prominenter‹ als jeder andere.
Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts war Eros das Ziel der ersten Raumsonde, die in einen Orbit um einen Asteroiden gehen sollte. Die Sonde wurde NEAR genannt, was für Erdnahes Asteroiden-Rendezvous stand. Am Ende der Mission hätte die Sonde sanft auf der Oberfläche des uralten Asteroiden landen sollen. Diese ersten Astronomen hatten dem Asteroiden den romantischen Namen des griechischen Gottes der Liebe gegeben. Es war in aller Munde gewesen, als die Sonde NEAR den Ziel-Asteroiden ›geküsst‹ hatte, und die Medien hatten erwartungsgemäß besonders betont, dass der Kontakt kurz vorm Valentinstag stattgefunden hatte.
In Anbetracht der Umstände hätte der Name des Asteroiden jedoch nicht unpassender sein können.
Man war für lange Zeit der Ansicht gewesen, dass Eros mit seinem exzentrischen Orbit, der sich im Wesentlichen innerhalb des Mars-Orbits bewegte, keine Gefahr für die Erde darstellte. Ein Zusammenstoß mit dem Mars erschien viel wahrscheinlicher.
Doch nun war der Mars verschwunden.
Und über lange Zeiträume, in denen er auf die subtilen Einflüsse der Anziehungskraft der Planeten reagierte und in dem Maß, wie seine eigenen komplexen, intrinsischen und dynamischen Instabilitäten sich auswirkten, änderte der Asteroid seine Bahn. Eine Million Jahre nach dem Untergang der Menschheit hatte er sich der Erde angenähert – sehr nahe, so nah, dass er mit dem bloßem Auge zu sehen gewesen wäre, falls jemand hingeschaut hätte.
Und neunundzwanzig Millionen Jahre später kam er noch näher.
Erinnerung wurde auf dem Akazienbaum von Juckreiz geplagt. Sie kratzte sich das Fell und suchte nach den Läusen und Wanzen, die sich am Blut labten oder Eier unter der Haut ablegten. Aber es gab auch Stellen, an die sie nicht herankam – zum Beispiel der Rücken, und natürlich tummelten die Parasiten sich dort am ungestörtesten.
Dadurch wurde sie schmerzlich an ihre Einsamkeit erinnert. In dem Maß, wie die Sprache verschwand, hatte die Angewohnheit der Fellpflege sich wieder etabliert und die alte Funktion als sozialer Kitt übernommen. (Zumal sie ohnehin nie ganz verschwunden war.) Erinnerung war aber nicht mehr gekämmt worden, seit sie sich zum letzten Mal schlafen gelegt und sich zusammen mit ihrer Mutter ins Nest gekuschelt hatte.
Überhitzt, vom Juckreiz geplagt, hungrig, durstig und einsam wartete Erinnerung in ihrem Akazienhain, bis die Sonne wieder hoch am Himmel stand.
Dann kletterte sie vom Baum herunter.
Die Elefanten-Leute und ihre Nagetier-Hirten waren verschwunden. Im leeren, staubigen Grasland regte sich fast nichts. Die Stille war so drückend wie die Hitze. Durch das staubige Flimmern sah sie im Osten einen dunklen Fleck, bei dem es sich vielleicht um eine Herde von elefantenartigen Schweinen oder Ziegen handelte oder vielleicht um Hominide. Im Westen nahm sie Bewegung wahr, ein braunes Fell. Vielleicht war es eine Räuber-Ratte mit ihren Jungen.
Im Norden, wo die purpurnen Berge dräuten, sah sie diesen dunkelgrünen Klecks. Sie verspürte nur den einzigen Impuls: sich in den Schutz des Walds zu flüchten.
Nackt und mit leeren Händen lief sie über die Ebene und ließ sich hin und wieder auf alle viere fallen, um einen Teil des Gewichts auf die Knöchel zu verlagern. Sie war eine winzige Gestalt, die eine weite, kahle Landschaft durchquerte und nur vom Schatten unter ihren Füßen begleitet wurde.
Sie fand kein Wasser und nichts zu essen außer ein paar Büscheln des spärlichen Grases. Der Durst setzte ihr immer mehr zu, und die Stille wurde immer drückender. Bald erschien ihr Leben nur noch aus diesem Marsch zu bestehen, als ob die Erinnerungen an ein Leben im Grünen und die Familie so bedeutungslos wären wie ihre Träume vom Fallen.
Sie wurde sich bewusst, dass sie einen flachen Abhang in eine große, Kilometer durchmessende Senke hinab stieg. Vor dieser großen Mulde hielt sie inne.
Ein Tal war in die Mitte der Senke eingeschnitten – ein Tal, das einst von einem Fluss gefräst worden war –, doch selbst von hier aus sah sie, dass das Tal trocken war. Die Vegetation unterschied sich von der in der Ebene hinter ihr. Es gab hier keine Bäume, nur ein paar Büsche und vereinzelte grüne Grastupfer. Dafür gab es hier jede Menge rauschender violetter Blätter.
Ein gesundes Misstrauen gegenüber allem Neuen war nie verkehrt. Jedoch lag diese Senke mitten in ihrem Weg und schnitt sie vom bewaldeten Abhang ab, der noch weit entfernt war. Sie sah, dass es hier keine Tiere gab, weder Pflanzenfresser noch pirschende Räuber.
Also ging sie vorsichtig und wachsam weiter.
Der violett-purpurne Gürtel entpuppte sich als Blumen, die in dichten Gruppen inmitten dünner fahler Grashalme wuchsen – ein paar waren so hoch, dass sie ihr bis zur Hüfte reicht. Sie ging weiter, bis sie überall von kräftigem Purpur umgeben war. Doch auch hier gab es kein Wasser.
Einst hatte hier eine Stadt gestanden. Doch selbst jetzt, lang nach dem Untergang der Stadt, war der Erdboden noch so verseucht, dass nur metalltolerante Pflanzen zu überleben vermochten – zum Beispiel die Kupfer-Blumen mit den violetten Blüten.
Schließlich wurden die purpurnen Blumen wieder lichter. Im Herzen dieses seltsamen Orts kam sie zu einem flachen Flussufer. Das Flussbett war trocken und nur mit Staubverwehungen gefüllt: Geologische Verschiebungen hatten vor schon langer Zeit das Wasser umgeleitet, das diese Rinne gefräst hatte. Erinnerung stieg das erodierte Ufer hinunter und grub im Staub, doch auch hier gab es keine Feuchtigkeit.
Nachdem sie die flache Senke wieder verlassen hatte, dauerte es nicht lang, bis Erinnerung aufs nächste Hindernis stieß.
Es gab hier Bäume, knorrige, zäh wirkende Bäume, sowie Termiten- und Ameisenhügel, die wie Statuen über eine ansonsten trockene und leblose Ebene verstreut waren. Es war kein Wald – dafür standen die Bäume nicht dicht genug zusammen –, sondern es glich eher einem Garten, wo man einen großen Abstand zwischen den einzelnen Bäumen gelassen und sie mit Termitenhügeln und Ameisennestern umgeben hatte. Das waren Borametz-Bäume, die neue Art. Der Garten weckte ein tiefes, instinktives Gefühl des Unbehagens in Erinnerung. Im tiefsten Innern wusste sie, dass dies nicht die Art von Landschaft war, in der die Hominiden sich entwickelt hatten.