Und diese fremdartige Landschaft aus Bäumen und Termitenhügeln war wieder eine Barriere auf ihrem Weg; sie erstreckte sich so weit nach links und rechts, wie das Auge reichte. Und als die Sonne sich dem Horizont entgegensenkte, wurden Durst und Hunger schier unerträglich.
Zögernd ging sie weiter.
Etwas kitzelte sie am Fuß. Sie schrie auf und sprang zurück.
Sie war in eine doppelte Ameisen-Kolonne getreten. Die Tiere liefen auf einer Spur zwischen einem Nest – dessen Löcher sie im Boden sah – und den Wurzeln eines Baums hin und her. Sie bückte sich und fuhr mit den Händen über die Ameisen. Dabei wirbelte sie zwar mehr Staub als Insekten auf, aber es gelang ihr trotzdem, sich ein paar Ameisen in den Mund zu stecken und kaute die knusprigen Leckereien. Immer mehr emsige Ameisen liefen ihr um die Füße herum, ohne das Schicksal ihrer Kameraden zur Kenntnis zu nehmen.
Der Baum, der das Ziel dieser Ameisen darstellte, war nichts Besonderes: Er war klein und hatte einen dicken, knorrigen Stamm und Äste, die mit kleinen roten Blättern behangen waren, sowie breite Luftwurzeln, die sich über den Boden ausbreiteten, bevor sie wie stochernde Finger darin verschwanden.
Erinnerung ging zum Borametz-Baum hin und musterte ihn skeptisch. Es hingen keine Früchte an den tiefen Ästen. Dafür wuchs etwas daran, das wie hartschalige Nüsse aussah, in Klumpen am Fuß des Stamms in der Nähe der Wurzeln. Aber es gab nur ein paar Nüsse, weniger als ein Dutzend. Sie versuchte sie abzureißen, aber sie hingen zu fest für ihre Finger, und die Schalen waren zu hart für ihre Zähne. Sie riss ein paar Blätter ab und kaute sie versuchsweise. Sie waren bitter und trocken.
Sie gab es auf, ließ die letzten Blätter fallen und lief zu einer verheißungsvolleren Nahrungsquelle. Der nächste Termitenhügel war so groß wie sie, ein hoher Kegel aus getrocknetem Lehm. Sie ging zum Baum zurück und suchte nach einem Zweig. Sie hatte früher schon Termiten gefischt, obwohl sie nicht so gut war wie seinerzeit Capo. Sie war nicht einmal so geschickt, wie Schimpansen es im Zeitalter der Menschen gewesen waren. Aber es gelang ihr vielleicht doch, genug von den wimmelnden Leckereien hervorzuholen, um den Hunger zu lindern…
Sie erhaschte einen Blick auf einen vorstoßenden Kopf mit Schneidezähnen, die wie Messerklingen durch die Luft säbelten. Eine Ratte. Sie machte einen Satz und griff nach den Ästen des Borametz. Die Äste waren dünn, verworren und schwer zu greifen. Aber sie schaffte es trotzdem, denn das war die einzige Deckung, die sie hatte.
Es war ein Maus-Raptor: einer von der Kolonie, die die elefantenartigen Menschenabkömmlinge zum See geführt hatten. Der Raptor stieß vor Wut einen schrillen Schrei aus, richtete sich auf den kräftigen Hinterbeinen auf, schnitt mit den blutverschmierten Schneidezähnen durchs untere Blattwerk und rannte mit dem massiven Schädel gegen den Stamm des Borametz.
Der junge, rastlose und neugierige Raptor hatte noch nie diese Art von Tier gejagt. Erinnerung so weit zu verfolgen war ein schönes Spiel gewesen. Doch nun hatte der Raptor genug gespielt und wollte wissen, wie sie schmeckte.
Die schorfige Rinde des Borametz scheuerte schmerzhaft an ihrem Körper. Die Äste hingen zu hoch für den Raptor. Doch unter der Wucht des großen Kopfes erzitterte der ganze Baum, und Erinnerung wusste, dass sie früher oder später wie eine reife Frucht herunterfallen würde. Sie geriet in Panik und wand sich durch die Äste, um sich möglichst weit vom Raptor zu entfernen.
Aber die dünnen Äste des Borametz brachen leicht. Sie hatten sich so entwickelt, um Vögel, Fledermäuse und kletternde Säugetiere davon abzuhalten, sich hier häuslich einzurichten.
Der Ast unter ihr brach plötzlich ab. Sie fiel herunter und schlug auf dem Boden auf – und dann brach der Boden in einer Staubwolke unter ihr ein.
Erschrocken fiel sie eine Körperlänge tiefer und kam dann hart auf. Sie lag benommen auf dem Rücken. Sie schaute zu einem Ausschnitt des Himmels und zum Kopf des Raptors empor, der von einem gezackten, eingebrochenen Dach aus festgestampfter Erde eingerahmt wurde.
Und dann gab die Fläche unter ihr nach. Sie stürzte wieder in einer mit Erdreich durchsetzten Staubwolke ab. Dann kam sie eine Etage tiefer wieder hart auf. Geröll fiel ihr ins Gesicht und verstopfte Mund, Nase und Augen.
Es roch nach Milch: nach einer Mischung aus Urin, Fäkalien und Milch. Etwas kroch über Erinnerungs Bauch – es war klein, aber schwer, warm und haarlos. Sie griff blindlings danach. Und spürte, dass sie einen nackten, glitschigen und feuchten Körper umklammerte. Arme und Beine schlugen schwach auf sie ein. Es war, als ob sie ein nacktes Baby gehalten hätte.
Doch nun berührte eine dieser kleinen Hände ihre Brust, und Klauen schlitzten die Haut auf. Sie schrie auf und schleuderte die Kreatur weg. Sie hörte, wie sie mit einem dumpfen Schlag aufkam und in der Dunkelheit wegrutschte.
Aber sie waren überall – sie hörte ihre schabenden und schleifenden Geräusche in der Dunkelheit und sah sie im trüben Licht.
Maulwurf-Leute. So wirkten sie auf sie. Sie hatten eine lose, fleischige Haut, die ihnen in Falten um den Hals und den Körper hing. Sie waren unbehaart: Die Köpfe waren kahl, die rosige Kopfhaut runzlig, und sie hatten weder Augenlider noch Augenbrauen. Die Ohren waren klein und rudimentär, und die Nasen waren wie Schnauzen geformt. Sie hatten Schnurrhaare. Und sie hatten keine Augen: Die Höhlen, in denen die Augen einst gelegen hatten, waren nur noch mit Hautschichten bespannt.
Sie hatten Arme und Beine, Rümpfe und Köpfe von Menschen. Aber sie waren alle klein; keiner von ihnen war größer als ein Kind ihrer Art – und trotzdem waren viele von ihnen Erwachsene. Sie sah Brüste und funktionale Penisse an diesen kleinen Leibern.
Blind oder nicht, sie waren lichtscheu. Sie zogen sich zurück und verschwanden in Tunnels, die in die Erde gegraben waren. Ihre Fingernägel waren schaufelartige Klauen, die fürs Graben geschaffen waren. Eine Berührung dieser Klauen hatte schon gereicht, um tiefe Einschnitte in ihrer Schulter zu hinterlassen.
Sie war in einem Nest, in einem Nest von Leuten, die wie Würmer wimmelten und sich eingruben. Sie schrie auf, denn diese karikaturartigen Menschenabkömmlinge jagten ihr einen großen Schreck ein, einen Schreck, den sie nicht verstand, und sie versuchte wieder ans Licht zu gelangen.
Und schaute direkt in die Augen des Maus-Raptoren. Er zischte und setzte zum Sprung an.
Sie ließ sich in einen leeren Tunnel fallen.
Die Wände waren vom Durchgang unzähliger wimmelnder Körper verdichtet und glatt geschliffen, und ihr stach wieder der typische Gestank nach Milch und Urin in die Nase. Die Tunnels waren von den Maulwurf-Leuten mit ihren schlanken, kleinen Leibern geformt worden und zu eng für Erinnerung. Sie musste kriechen und sich mit Armen und Beinen vorarbeiten, die bald stark schmerzten. Es war ein klaustrophobischer Alptraum.
Aber da war Licht. Enge Kamine schlängelten sich an die Erdoberfläche. Die schmalen, verwinkelten Schächte sollten Luft durchlassen und zugleich Räuber ausschließen. Und es fiel auch genug Licht hindurch, um ihr zumindest einen gewissen Eindruck davon zu vermitteln, worin sie sich überhaupt bewegte.
In Tunnels, die in alle Richtungen abzweigten – ein ganzes Netzwerk. Sie hörte hallende Räume unter und neben sich, Kammern, Tunnels und Alkoven, die scheinbar bis in die Unendlichkeit sich verzweigten. Sie glaubte, hin und wieder einen Blick auf die Maulwurf-Leute zu erhaschen – zappelnde Gliedmaßen, zurückweichende Rümpfe oder abgedeckte, blind starrende Augenhöhlen.