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Furcht und Verzweiflung überkamen sie. Aber sie hatte keine andere Wahl, als weiter zu kriechen.

Plötzlich brach sie durch eine dünne Wand und fiel in eine überfüllte Kammer. Babys schwärmten sofort über sie aus und bissen und kratzten sie.

Diese große Kammer war voller Kinder, kleinen Ausgaben der Erwachsenen, die sie zuerst gesehen hatte. Es stank hier erbärmlich nach Blut, Kot, Milch und Erbrochenem.

Sie schob die Babys weg. Fast alle waren Weibchen. Ihre weichen, warmen kleinen Körper waren fast noch ekliger als die der Erwachsenen. Sie drehte sich um und versuchte zum Tunnel zurück zu kriechen, durch den sie gefallen war.

Doch nun quollen Erwachsene aus dem Tunnel. Diese Neuankömmlinge wichen nicht zurück wie die ersten, denen sie begegnet war. Diese Maulwurf-Leute waren Soldaten und gekommen, um die Kinderstube vor dem Eindringling zu schützen.

Der erste Soldat sprang sie mit ausgefahren Grabklauen an. Erinnerung hob den Arm, um den Hals zu schützen. Unter dem geringen Gewicht des Maulwurf-Wesens fiel sie wieder auf den Haufen wimmelnder Kinder.

Der Soldat war ein Erwachsener, ein Weibchen. Aber ihre Brüste waren kaum ausgeprägt, und ihre Vagina war unentwickelt. Sie war steril. Trotzdem kämpfte sie so wild, als ob ihre eigenen Kinder in Gefahr wären und wand sich, biss und kratzte.

Erinnerung hätte dem Angriff der Soldaten vielleicht nicht allzu lang standzuhalten vermocht, doch dann gelang ihr ein Glückstreffer. Sie versetzte dem Soldaten einen Tritt direkt unters Brustbein. Die kleine Kreatur wurde zurückgeschleudert und stieß mit den Leuten hinter ihr zusammen, worauf sich eine zuckende Masse aus Gliedmaßen und Klauen bildete.

Erinnerung machte auf der anderen Seite der Kammer die Konturen einer Tunnelöffnung aus und lief in diese Richtung. Sie stapfte auf allen vieren durch wimmernde Kinder.

Doch dann nahmen die Soldaten die Verfolgung wieder auf. Sie quetschte sich durch die Tunnels und nahm die erstbesten Abzweigungen. Sie wusste nicht, ob sie sich in Richtung der Erdoberfläche oder noch tiefer ins Erdinnere bewegte. Doch im Moment zählte nur, dass sie den Verfolgern entkam.

Sie brach – fiel – durch eine weitere Wand und landete auf einer harten Unterlage, wie auf einem Steinhaufen. Nein, das waren keine Steine, sondern Nüsse, große schwere Nüsse, die Nüsse des Borametz-Baums. Sie taumelte weiter und stieß auf einen großen Haufen aus Samen und Wurzeln. Sie war in einer Vorratskammer gelandet.

Und da kamen auch schon die Soldaten; sie schwärmten schnüffelnd aus.

Sie eilte zur anderen Seite der Kammer und duckte sich hinter einem Haufen großer Samen an die Wand. Sie schleuderte den Soldaten mit aller Kraft Nüsse entgegen. Der Angriff brach zusammen, als die vorderste Linie zurückwich und mit den Nachfolgenden zusammenstieß. Sie ergriffen vor diesem Nüsse schleudernden Dämon die Flucht.

Doch nicht alle Soldaten zogen sich zurück. Ein paar blieben in der Tunnelöffnung stehen und zischten und spien sie an.

Erinnerung, erschöpft und zerschlagen wie sie war, focht das aber nicht an. Sie vermochte nicht von hier zu verschwinden – aber die Soldaten vermochten auch nicht an sie heranzukommen. Sie stellte das Werfen mit den Nüssen ein.

Sie roch Feuchtigkeit. Sie fand eine Stelle in der dünnen Wand hinter sich, aus der eine dünne Baumwurzel ragte. Sie hatte die Wurzel abgerissen, und nun sickerte ein wässriger Saft heraus. Sie steckte sich die Wurzel in den Mund und sog den Saft aus. Die süße Flüssigkeit benetzte ihre ausgedörrte Kehle. Und dann fand sie ein paar Knollen unter dem Haufen Nüsse. Sie biss ins süße Fleisch und linderte den Hunger.

Sie legte sich hin und drückte sich schwere Nüsse an die Brust. Bald störte sie das Zischen der machtlosen Soldaten auch nicht mehr als das Geräusch eines entfernten Gewitters. Sie war so erschöpft, dass sie einnickte.

Und dann hörte sie Bewegung in der Kammer, ein Scharren und Schaben. Vorsichtig steckte sie den Kopf über die Barriere aus Nüssen. Sie sah Maulwurf-Leute in der Kammer herumlaufen, aber keine Soldaten. Sie schienen vergessen zu haben, dass sie überhaupt hier war. Sie hoben Nüsse auf und schafften sie aus der Kammer in den Tunneleingang. Erinnerung hatte keine Ahnung, was sie da machten. Sie hatte nicht einmal die geistige Kapazität, um die Frage überhaupt zu formulieren. Es kam nur darauf an, dass sie keine Bedrohung mehr für sie darstellten.

Sie sank wieder in ihr improvisiertes Nest, knabberte noch ein bisschen an der Knolle, dann schlief sie ein.

Die Maulwurf-Leute hatten sich wegen der Trockenheit dieses Orts unter die Erde verkrochen – deshalb und wegen der Jäger. Wenn man sich in den Boden eingrub, war man sogar vor Ratten sicher.

Natürlich hatten sie dafür einen Preis zahlen müssen. Die Leute waren mit jeder Generation etwas mehr geschrumpft, um sich besser im wachsenden Tunnelkomplex bewegen zu können. Und mit der Zeit waren die Körper durch die Beschränkungen des Lebens im Untergrund geformt worden: Sie verloren die nutzlosen Augen, die Fingernägel worden zu Grabklauen und die Körperbehaarung wurde durch Schnurrhaare ersetzt, die aus länglichen Schnauzen sprossen und ihnen dabei halfen, ihren Weg im Dunklen zu finden.

Die Trockenheit hatte Kooperation befördert.

Die Maulwurf-Leute lebten von Wurzeln und Knollen, in der Erde vergrabenen Schätzen. In der Trockenheit wurden die Knollen groß, wuchsen aber in weiten Abständen. Das war besser so für die Pflanzen, weil große Knollen nicht so schnell austrockneten. Eine einzelne Maulwurfs-Person, die aufs Geradewohl gegraben hätte, wäre wahrscheinlich längst verhungert, bevor sie auf die dünn gesäten Schätze gestoßen wäre. Wenn man aber bereit war, seinen Fund zu teilen, dann erhöhten sich die Erfolgsaussichten für die Gruppe als Ganzes, wenn viele Kolonie-Mitglieder in allen Richtungen gruben.

Alle Menschenabkömmlinge waren Sozialwesen wie ihre Vorfahren, und sie spezialisierten sich in dem Maß, wie sie diese Sozialität entwickelt hatten. Diese Maulwurf-Leute hatten die Sozialität sozusagen auf die Spitze getrieben. Sie lebten wie in einem Insekten-Kollektiv, wie Ameisen, Bienen oder Termiten. Oder vielleicht waren sie auch wie nackte Maulwurfs-Ratten, die eigenartigen, in Stöcken lebenden Nagetiere, die einst Somalia, Kenia und Äthiopien verseucht hatten und längst ausgerottet worden waren.

Dies war ein Stock. Hier waltete kein Bewusstsein. Es war aber auch gar kein Bewusstsein notwendig. Die globale Organisation des Stocks war die Summe der Interaktionen seiner Mitglieder.

Die meisten Bewohner der Kolonie waren Weibchen, aber nur ein paar von diesen Weibchen waren fruchtbar. Diese ›Königinnen‹ hatten die Kinder produziert, über die Erinnerung in der Kinderstube gestolpert war. Der Rest der Weibchen war steril; sie hatten nicht einmal die Pubertät erreicht und widmeten ihr Leben der Aufzucht nicht ihres eigenen Nachwuchses, sondern der Kinder ihrer Schwestern und Cousinen.

In genetischer Hinsicht ergab das natürlich einen Sinn. Sonst hätte sich es auch gar nicht so ergeben. Die Kolonie war eine große Familie, die durch Inzucht zusammengehalten wurde. Indem man den Bestand der Kolonie sicherte, stellte man auch sicher, dass sein genetisches Erbe weitergegeben wurde, wenn auch nicht direkt durch eigenen Nachwuchs. Wenn man steril war, war das die einzige Möglichkeit, seine Gene weiterzugeben.

Aber das war nicht das einzige Opfer. In dem Maß, wie die Körper dieser Kolonie-Bewohner geschrumpft waren, waren auch die Gehirne geschrumpft. Man brauchte kein Gehirn mehr. Der Stock kümmerte sich um einen, genauso wie die Maus-Raptoren sich um die Elefanten-Leute kümmerten, die sie in Herden hielten und verzehrten. Man vermochte die Energie des Körpers sinnvoller zu nutzen, als ein unnötiges Gehirn damit zu befeuern.