Und mit der Zeit verzichteten die Maulwurf-Leute sogar auf die wertvollste aller Säugetier-Erbschaften: auf die Warmblütigkeit. Weil sie ihre Bauten kaum verließen, brauchten die Maulwurf-Leute keine so aufwändige Stoffwechsel-Maschinerie – zumal ein kaltblütiger Späher weniger Nahrung brauchte als ein warmblütiger. In ein paar Millionen Jahren würden diese Maulwurf-Leute wie Eidechsen ausschwärmen und in Konkurrenz zu den Reptilien und Amphibien treten, die die MikroÖkologie seit jeher bewohnten.
Und so huschten die Maulwurf-Leute ängstlich, unwissend und mit zuckenden Schnurrhaaren durch die mit Speichel zementierten Gänge. Doch im Schlaf rollten sie mit den zugewachsenen rudimentären Augen, während sie von seltsam offenen Ebenen träumten, auf denen sie frei und ungehindert umherstreiften.
Erinnerung verlor jegliches Zeitgefühl. Im stickig heißen Gefängnis der Kammer schlief sie, aß Wurzeln und Knollen und sog Wasser aus den Baumwurzeln. Die Maulwurf-Leute ließen sie in Ruhe. Sie war schon seit Tagen hier, ohne an etwas zu denken und andere Bedürfnisse zu verspüren außer zu essen, Kot und Urin abzusondern und zu schlafen.
Trotzdem wurde sie schließlich unruhig. Sie wachte auf und schaute sich verschlafen um.
Im trüben, diffusen Licht sah sie, dass Maulwurf-Leute die Kammer betraten und sie durch einen engen Schacht im Dach wieder verließen. Sie bewegten sich in einer Linie. Die schlackernde Haut warf Falten, wenn sich aneinander drückten, die Schnurrhaare zuckten und die klauenbesetzten Hände krabbelten.
Obwohl der Maus-Raptor und andere Gefahren im Hinterkopf präsent waren, sehnte Erinnerung sich danach, wieder nach draußen zu kommen – nach dem Tageslicht, nach frischer Luft, nach Grün.
Sie wartete, bis die Maulwurf-Leute vorbei geklettert waren. Dann stieg sie über den Haufen Nüsse und quetsche sich durch die schmale Bresche im Dach.
Es war eine Art Kamin, der zu einem Spalt purpurschwarzen Himmels hinaufführte. Der Anblick des Himmels trieb sie an, und sie quetschte sich immer höher durch den engen, zerklüfteten Kamin. Mit Händen und Füßen, Knien und Ellbogen arbeitete sie sich durch den Dreck und presste Brust und Hüften durch Lücken, die viel zu klein für sie zu sein schienen.
Schließlich steckte sie den Kopf über die Erde. Sie atmete die frische Luft in tiefen Zügen ein und fühlte sich gleich viel besser. Aber die Luft war kalt. Die knorrigen Konturen der Borametz-Bäume verstellten ihr den Blick auf den Sternenhimmel. Es war Nacht, die Zeit, wo die Maulwurf-Leute sich bevorzugt an die Oberfläche wagten. Sie schob die Arme aus dem Loch, legte die Hände auf den Boden und stemmte sich mit der Kraft eines Baumkletterers hoch, wobei sie den Körper aus dem Kamin zog wie einen Korken aus der Flasche.
Die Maulwurf-Leute waren überall; sie rannten auf Hinterbeinen und Knöcheln umher, schnüffelten, schlurften und wuselten durcheinander. Aber ihre Bewegungen waren dennoch geordnet. Sie gingen in Kolonnen, die sich um die Termitenhügel und Ameisennester schlängelten, zwischen den Borametz-Bäumen und den Ausstiegslöchern hin und her. Sie rissen die Nüsse ab, die in Klumpen an den Baumwurzeln wuchsen, Nüsse, die manchmal so groß waren wie der Kopf eines Maulwurfwesens. Aber sie schienen sie nicht zu knacken, um ans Fleisch zu gelangen. Sie brachten sie nicht einmal in die unterirdischen Lager. Vielmehr holten sie noch Nüsse aus den unterirdischen Depots herauf, wie sie nun sah.
Sie brachten die Nüsse zum Rand des Borametz-Hains. Dort hoben Arbeiter kleine Gruben im Boden aus – wobei sie das spärliche Gras ausrissen –, in denen die Nüsse dann abgelegt und vergraben wurden.
Jeder Borametz war der Mittelpunkt einer symbiotischen Gemeinschaft von Insekten und Tieren.
Symbiose zwischen Pflanzen und anderen Organismen war uralt: Die blühenden Pflanzen und die sozialen Insekten hatten sich quasi Hand in Hand entwickelt, wobei die einen die Bedürfnisse der jeweils anderen erfüllten. Und es waren die sozialen Insekten, die Ameisen und Termiten, die als Erste von den reproduktiven Strategien der neuen Baum-Art kooptiert worden waren.
Jede Symbiose war eine Art von Geschäft. Die Pfleger, ob Insekten oder Säugetiere, lösten die Samen der Borametz-Bäume vom Stamm oberhalb der Wurzeln ab, aber sie verzehrten sie nicht, sondern lagerten sie ein. Und wenn die Bedingungen günstig waren, transportierten sie sie zu einem Ort, der zur Bepflanzung geeignet war – in der Regel an der Peripherie eines schon existierenden Hains, wo es kaum Konkurrenz durch etablierte Bäume oder Gräser gab. Und so wuchs der Wald. Als Lohn für ihre Mühen bekamen die Pfleger Wasser: Wasser, das die außergewöhnlich langen Wurzeln des Borametz selbst in den trockensten Gebieten aus tiefen Grundwasserschichten heraufholten.
Es war für die Maulwurf-Leute mit ihrer kooperativen Gesellschaft und den noch immer beweglichen Primaten-Händen und Gehirnen nicht schwer gewesen, die Termiten und Ameisen zu imitieren und die Borametz-Bäume selbst zu hegen. Zumal sie wegen ihrer größeren Körper auch ein größeres Gewicht zu tragen vermochten als Insekten, was die Entwicklung neuer Borametz-Arten mit größeren Samen zur Folge gehabt hatte.
Für den Borametz war es eine Frage der Effizienz. Der Borametz musste viel weniger Energie in jeden erfolgreichen Setzling investieren als seine Konkurrenten. Also war es eine reproduktive Strategie, die dem Borametz das Überleben ermöglichte, wo andere Spezies keinen Erfolg hatten. Und während ihre Pfleger die Samen fleißig von den Gärten auf die Wiese hinaustrugen, breiteten die Borametz-Arten sich sogar im Grasland aus. Schließlich – über fünfzig Millionen Jahre nach dem Triumph der Gräser –, gelang den Bäumen die Revanche.
Die Borametz-Bäume verkörperten die erste pflanzliche Revolution, seit die blühenden Pflanzen in den Tagen vor Chicxulub aufgekommen waren. Und in den kommenden Zeitaltern sollte diese neue pflanzliche Revolution – wie schon das Erscheinen der ersten Pflanzen an Land es den Tieren ermöglicht hatte, das Meer zu verlassen, wie die Evolution der blühenden Pflanzen, wie der Aufstieg der Gräser – durchgreifende Auswirkungen auf alle Lebensformen haben.
Während Erinnerung noch immer außer Atem auf dem Boden saß und dem merkwürdige Treiben der Maulwurf-Leute zuschaute, hörte sie allzu bekannte schleichende Schritte und einen schrecklich zischenden Atem. Sie drehte langsam den Kopf, um sich nicht zu verraten.
Es war der junge Maus-Raptor, derselbe, der seine Herde von Elefanten-Leuten verlassen hatte, um sie zu jagen. Er stand über einer Reihe von Maulwurf-Leuten, die zwischen dem Baum und der Pflanzung hin und her huschten und sich der Gefahr nicht bewusst waren, in der sie schwebten.
Es war, als ob der Raptor Rache übte. Nur ein paar Nagetiere vermochten die dicke Schale der Borametz-Nüsse zu knacken. Je weiter der Borametz sich verbreitete, desto stärker waren die Samen fressenden Arten, denen dieser Raptor entsprungen war – zusammen mit Vögeln und anderen Spezies –, von einem schwindenden Nahrungsangebot, von schrumpfenden Revieren und in manchen Fällen sogar vom Aussterben bedroht.
Der Raptor traf seine Wahl. Er bückte sich, wobei er sich mit dem langen Schwanz abstützte, und schnappte sich eine verwirrte Maulwurfs-Frau. Der Raptor drehte sie auf den Rücken und strich ihr fast zärtlich über den Bauch.
Die Maulwurfs-Frau wehrte sich schwach. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie von der Kolonie abgeschnitten und vom subtilen sozialen Druck befreit. Es war, als ob sie plötzlich aus einem Meer aus Blut und Milch an die Oberfläche gestiegen wäre, und sie verspürte kreatürliche Angst – zum ersten und auch zum letzten Mal. Dann stieß der Kopf des Raptors herab.
Ihre Kameraden eilten an den Füßen des Killers vorbei, ohne dass der Fluss merklich unterbrochen worden wäre.
Der Maus-Raptor drehte sich um. Die kleinen Ohren zuckten. Und er starrte direkt auf Erinnerung.
Ohne zu zögern stürzte sie sich wieder ins Loch im Boden.