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Erinnerung blieb noch für ein paar Tage in der Speisekammer. Aber sie vermochte sich nicht mehr im stickigen Mief einzurichten, der sie umgeben hatte.

Am Ende war es der Wahnsinn der Maulwurf-Leute, der sie vertrieb.

Selbst für dieses trockene Gebiet war der Sommer sehr trocken gewesen. Die Suche nach den Knollen und Wurzeln, von denen die Maulwurf-Leute lebten, gestaltete sich immer schwieriger. Die Vorräte in der Kammer schwanden dahin und wurden der Not gehorchend durch andere Pflanzen ersetzt, wie die violetten Blätter der Kupferblumen. Diese Nahrung enthielt jedoch Giftstoffe, die sich im Blutkreislauf der Maulwurf-Leute akkumulierten.

Schließlich brach alles zusammen.

Wieder wurde Erinnerung von Maulwurf-Leuten geweckt, die durch die fast leere Speisekammer liefen. Doch diesmal stiegen sie nicht in ordentlichen Kolonnen durch die Kamine aus. Stattdessen rannten sie wie verrückt umher und drängten alle auf einmal aus der Kammer. Sie konnten es kaum erwarten, an die Oberfläche zu gelangen und rissen dabei das Dach ein.

Erinnerung wich den blindlings um sich schlagenden Krallen aus und folgte ihnen vorsichtig nach oben. Diesmal tauchte sie in Tageslicht ein.

Überall um sie herum schwärmten die Maulwurf-Leute aus. Es waren unzählige, die durcheinander wuselten – wie ein Teppich aus zuckenden Fleischbrocken. Die Luft wurde vom Gestank nach Milch erfüllt und vom Geräusch, mit dem die Leiber aneinanderschabten. Es waren viel mehr, als die Kolonie Mitglieder gehabt hatte: Viele Stöcke hatten sich geleert, als die vergiftete, halb berauschte Population von einer Aufwallung kollektiven Wahnsinns gepackt wurde.

Und die Räuber zeigten schon Interesse. Erinnerung sah einen sich anschleichenden Ratten-Leoparden und ein Rudel hundeartiger Mäuseabkömmlinge, derweil über ihr Raubvögel in den Sturzflug gingen.

Das alles war eine Reaktion auf die Verknappung der Nahrung. Die überfüllten Bauten der Maulwurf-Leute hatten sich geleert, als sie auf der Suche nach etwas Essbarem blindlings ausschwärmten. Im Rauschzustand vermochten sie sich aber nicht mehr vor Gefahren zu schützen. Der größte Teil dieser Horde würde heute sterben, hauptsächlich in den Mäulern von Räubern. Der langfristige Bestand der Stöcke war dadurch aber nicht gefährdet. Die Kolonien hatten noch genug fruchtbare Mitglieder, um zu überleben. Zumal es auch eine positive Seite hatte, dass die Population in der Dürreperiode reduziert wurde. Die Maulwurf-Leute vermehrten sich schnell, und wenn das Nahrungsangebot sich wieder vergrößerte, würden auch die leeren Bauten und Speisekammern sich bald wieder füllen.

Die Gene würden weitergegeben: Nur darauf kam es an. Selbst dieser periodische Wahnsinn war Teil des größeren Plans. Dennoch würden heute viele ausgelöscht werden.

Während die Räuber sich an den gedeckten Tisch setzten und die Luft vom Knacken von Knochen und Knorpeln, den Schreien der Sterbenden und dem Gestank von Blut erfüllt war, schlich Erinnerung von diesem Ort des Wahnsinns und Tods davon und nahm die durch eine lange Zwangspause unterbrochene Wanderung zu den fernen purpurnen Hügeln wieder auf.

IV

Schließlich kam Erinnerung zu einer großen Bucht, wo das Meer tief ins Land hinein reichte.

Sie kletterte eine erodierte Sandsteinklippe hinab. Einst hatte dieses Gelände sich unter dem Meer befunden, und Sedimente hatten sich über Jahrmillionen abgelagert. Nun war das Land aus dem Meer emporgestiegen, und Flüsse und Bäche hatten breite Gräben in den freigelegten Meeresboden gefräst. Dabei waren tiefe, kompakte Schichten zum Vorschein gekommen, in denen zum Teil – zwischen dicken Sandsteinschichten eingeklemmt – Reste von Schiffswracks und Schutt von untergegangenen Städten eingebettet waren.

Erinnerung erkannte diesen Strand wieder. Sie lief am oberen Rand entlang und hielt sich in der Deckung von Steinen und Dünengräsern. Der Sand piekste sie an Füßen und Knöcheln und setzte sich im Fell fest. Dies war ein junger Strand, und es ragten noch immer zerklüftete Kanten aus dem Sand, die noch zu neu waren, als dass sie schon erodiert worden wären.

Sie kam zu einem Bach, der von den Felsen zum Meer hinunterplätscherte. Wo das Wasser sich in den Sand ergoss, klammerte sich eine kleine Baumgruppe an den Hang. Sie duckte sich, führte den Mund zum Wasser und trank in großen Schlucken. Dann lief sie in den Bach und versuchte Sand, Flöhe und Läuse aus dem Fell zu waschen.

Anschließend kroch sie in den Schatten der Bäume. Es gab hier keine Früchte, aber im kalten und feuchten, laubübersäten Boden tummelten sich viele Insekten, die sie sich in den Mund stopfte.

Vor ihr plätscherte das Meer leise an den Strand, und das Wasser leuchtete im Widerschein der hohen Sonne. Das Meer bedeutete ihr nichts, aber sein entfernter Schimmer hatte sie immer schon angezogen, und sie empfand es als durchaus angenehm, hier zu sein.

Zumal das Meer der Retter ihrer Art war.

Das von tektonischen Kräften auseinander gezerrte afrikanische Rift Valley war schließlich zu einem breiten Riss im Gefüge des Kontinents geworden. Das Meer war eingedrungen, und ganz Ostafrika war vom Hauptkontinent abgeschert worden wie einst Madagaskar und isoliert in den Indischen Ozean abgedriftet. So langsam hatte dieser gewaltige Prozess stattgefunden, dass die kurzlebigen Wesen, die auf der neuen Insel lebten, kaum etwas davon mitbekommen hatten.

Nach dem Untergang der Menschheit hatte es auf dem ganzen Planeten Taschen mit Überlebenden gegeben. Und fast überall waren sie im Konkurrenzkampf gegen die Nagetiere unterlegen. Nur hier, auf diesem Bruchstück von Afrika, hatte ein geologischer Zufall die Menschenabkömmlinge gerettet. So hatten sie Zeit, einen Weg zu finden, den gnadenlosen Ansturm der Nagetiere zu überstehen.

Dieser Ort, Ostafrika, war einst die Wiege der Menschheit gewesen. Nun war er die letzte Zuflucht ihrer letzten Kinder.

Erinnerung sah eine Bewegung im Wasser. Vorsichtig zog sie sich in den Schatten zurück.

Es war eine große schwarze, schlanke und kräftige Gestalt, die zielstrebig durchs Meer schwamm. Sie schien zu rollen, und eine Flosse, die irgendwie an den Flügel eines Vogels erinnerte, ragte in die Luft. Erinnerung machte einen bauchigen Kopf mit einem breiten siebartigen Schnabel aus, der aus dem Wasser stach. Mit einem lauten Prusten schoss Wasser aus zwei Nasenlöchern, die sich an der Oberseite des Schnabels befanden, das in der Luft zerstäubt wurde. Dann krümmte der Körper sich und verschwand in der Tiefe. Sie erhaschte einen letzten Blick auf einen Schwanz, und dann war die Kreatur verschwunden. Trotz des massigen Leibs hatte sie das Wasser kaum aufgewühlt.

Im ›Kielwasser‹ dieses Riesen sprangen kleinere, aber auch kräftige Leiber aus dem Wasser – drei, vier, fünf an der Zahl. Sie beschrieben elegante Bögen, tauchten ins Meer ein und stiegen immer wieder aus dem Wasser empor. Die Körper hatten die Gestalt von Fischen, aber diese delfinartigen Geschöpfe waren offensichtlich keine Fische. Sie waren mit Vogel-Schnäbeln ausgerüstet, die sich zu langen orangefarbenen Greifzangen verjüngten.

Die ›Delfine‹ wurden von anderen Wesen gefolgt, die in gleicher Weise über die Meeresoberfläche schnellten. Doch bei diesen viel kleineren Geschöpfen handelte es sich wirklich um Fische. Die feuchten Schuppen glitzerten, und flügelartige Flossen an den Seiten der goldenen Körper flatterten, als sie die kurzen, ruckartigen Flüge übers Wasser vollführten.

Der ›Wal‹ war kein echter Wal, wie auch die ›Delfine‹ keine Delfine waren. Diese großen Meeressäugetiere waren bereits vor dem Menschen ausgestorben. Diese Wesen stammten von Vögeln ab, und zwar von den Kormoranen der Galapagos-Inseln im Pazifik, die von widrigen Winden vom südamerikanischen Festland dorthin verschlagen worden waren. Sie hatten das Fliegen verlernt und sich zum Meer hin orientiert. Die Flügel ihrer Nachfahren waren zu Flossen geworden, die Füße zu Schwanzflossen, und die Schnäbel hatten sich in spezialisierte Instrumente verwandelt – Greifer und Siebe –, um Nahrung aus dem Meer zu schöpfen. Ein paar ›Delfin‹-Spezies hatten sogar die Zähne ihrer Reptilien-Urahnen nachgebildet: Der genetische Entwurf für die Zähne hatte zweihundert Millionen Jahre im Genom der Vögel geschlummert und auf den Tag gewartet, an dem er reaktiviert wurde.