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Über einen Zeitraum von dreißig Millionen Jahren – unmerklich langsam nach menschlichen Maßstäben – waren Adaption und Selektion durchaus in der Lage, einen Kormoran in einen Wal, einen Delfin oder in eine Robbe umzuwandeln.

Und all die schwimmenden Vögel, die Erinnerung sah, waren indirekte Nachkommen von Joan Useb.

Vor Erinnerungs Augen stieß eine delfinartige Kreatur aus dem Wasser mitten in die Wolke der fliegenden Fische hinein. Die Fische stoben mit blitzschnellen Schlägen der Flossen-Flügel auseinander, doch der Schnabel des ›Delfins‹ schloss sich noch um ein paar von ihnen, ehe der schlanke Leib wieder im Wasser versank.

Die Sonne machte sich an den langen Abstieg zum Meer. Erinnerung stand auf, klopfte sich den Sand aus dem Fell und setzte den vorsichtigen Knöchel-Gang am Strand entlang fort. Doch dann wurde sie von irgendetwas über sich abgelenkt. Mit der Befürchtung, dass es sich um einen Raubvogel handelte, schaute sie zum Himmel empor. Es war ein Licht – wie ein Stern, nur dass der Himmel noch viel zu hell für Sterne war. Sie sah, wie das Licht durchs Himmelszelt glitt.

Das Licht am Himmel war Eros.

NEAR, die kleine, längst tote Sonde, war für dreißig Millionen Jahre mit dem Ziel-Asteroiden durch die Weiten jenseits des Mars geflogen. Die exponierten Teile waren stark korrodiert, und die Metallwände waren durch den Dauerbeschuss von Mikrometeoriten auf die Dicke von Papier reduziert worden. Bei der Berührung einer behandschuhten menschlichen Hand wäre sie zerfallen wie eine Skulptur aus Staub.

Doch hatte NEAR bislang als eins der letzten Artefakte der Menschheit überlebt. Wenn Eros den erratischen Tanz um die Sonne fortgesetzt hätte, dann hätte NEAR vielleicht noch länger überdauert. Doch diese Chance sollte die Sonde nicht bekommen.

Der Durchgang des Asteroiden durch die Atmosphäre würde gnädig schnell erfolgen. Die fragile Sonde würde bei der Rückkehr zum Planeten, auf dem sie entstanden war, in Sekundenbruchteilen verdampfen, bevor der Himmelskörper, den sie so lang begleitet hatte, selbst zerstört werden würde.

Die evolutionären Laboratorien der Erde waren schon oft durch gewaltige Eingriffe von außen in Gang gesetzt worden. Und sie würden erneut die Arbeit aufnehmen: Von neuem würden die Prozesse der Variation und Selektion die Abkömmlinge der Überlebenden so umformen, dass sie die zerstörten ökologischen Systeme auszufüllen vermochten.

Jedoch war das Leben nicht unbegrenzt anpassungsfähig.

Auf Erinnerungs Erde gab es unter den neuen Spezies viele ›Novitäten‹. Und doch waren sie alle Variationen alter Themen. Die neuen Tiere waren allesamt anhand des uralten Vierfüßer-Bauplans erschaffen worden, dem Erbe der ersten nach Luft schnappenden Fische, die aus dem Schlick gekrochen waren. Und als Kreaturen mit einer Wirbelsäule waren sie alle Teil eines Phylums – ein riesiges Reich des Lebens.

Der erste Triumph des mehrzelligen Lebens war die so genannte Kambrium-Explosion gewesen, die etwa fünfhundert Millionen Jahre vor der Entstehung der Menschheit erfolgt war. In einem Ausbruch genetischer Innovation waren sage und schreibe hundert Phyla erschaffen worden: Jedes Phylum umfasste eine signifikante Gruppe von Spezies, die jeweils einen Entwurf eines Körper-Bauplans repräsentierten. Alle mit einem Rückgrat ausgestatteten Lebewesen gehörten zum Phylum der Chordaten. Die Arthropoden, das zahlenmäßig größte Phylum, umfasste Wesen wie Insekten, Tausendfüßler, Spinnen und Krabben. Und so weiter. Dreißig Phyla hatten den ersten Kataklysmus überstanden.

Seitdem waren Arten entstanden und vergangen, und das Leben hatte immer wieder Katastrophen und Aufschwünge erlebt. Es war jedoch kein einziges neues Phylum mehr entstanden, kein einziges – nicht einmal nach dem Pangäa-Auslöschungsereignis, dem bisher größten Aderlass. Und selbst zum Zeitpunkt dieses urzeitlichen Ereignisses war die Fähigkeit des Lebens zur Erneuerung schon stark eingeschränkt.

Der Stoff des Lebens war wie Knetmasse, die seelenlosen Prozesse der Variation und Selektion waren erfinderisch. Aber nicht unendlich erfinderisch. Die Fähigkeiten nahmen mit der Zeit ab.

Es war eine Frage der DNA. Im Zeitablauf hatte die molekulare Software, die die Entwicklung von Lebewesen steuerte, sich nämlich selbst verändert und war kompakter, robuster und kontrollierter geworden. Es war, als ob jedes Genom immer wieder eine ›Modellpflege‹ erfahren hätte, wobei jedes Mal Gen-Müll und Defekte aussortiert und die Kohärenz des Ganzen verbessert wurden – doch zugleich nahm das Potenzial für wesentliche Veränderungen immer mehr ab. Das uralte, durch die ›Innenrevision‹ der Genome erstarrte Leben war zu keinen großen Neuerungen mehr fähig.

Diese Selbstbeschränkung war eine verpasste Chance. Und das Leben vermochte auch nicht mehr allzu viele Hammerschläge einzustecken.

Das Licht am Himmel war seltsam. Jedoch kam Erinnerung nach einer instinktiven Kalkulation zu dem Schluss, dass keine Bedrohung von ihm ausging. Aber da irrte sie sich. Purga, die den Teufelsschweif in ähnlicher Weise über sich hatte hinweg ziehen sehen, hätte ihr das sagen können.

Noch bevor die Sonne den Horizont berührte, erreichte sie den Wald im Windschatten der vulkanischen Berge und hatte nach vielen Tagen endlich ihr Ziel erreicht. Erinnerung schaute zu den hohen Bäumen vor sich auf und zum Blätterdach, das dem Himmel entgegenstrebte. Sie glaubte, schlanke Gestalten dort herumklettern zu sehen, und diese schemenhaften Klumpen waren vielleicht Nester.

Das waren nicht ihre Leute. Aber es waren Leute, und vielleicht waren sie wie sie.

Sie sprang vom Boden hoch und kletterte ins tröstliche Grün der Baumwipfel hinauf.

Etwas flog an ihrem Kopf vorbei. Es war ein fliegender Fisch, der vom Meer kam. Sie sah, wie er mit kräftigen Schlägen der Flossen-Flügel zwischen den Bäumen hindurch flog und sich unbeholfen in einem Nest niederließ, wobei er pfeifend Luft in eine primitive Lunge sog.

KAPITEL 19

Eine sehr ferne Zukunft

Montana, Zentrales Neu-Pangäa, ca. 500 Millionen Jahre in der Zukunft

I

Ultima grub missmutig im Schmutz und hoffte darauf, einen Skorpion oder Käfer zu finden. Sie war ein orangefarbenes Fellknäuel auf der rostroten Oberfläche.

Es war dies eine flache, trockene Ebene aus rotem Gestein und Sand. Es war, als ob das Land mit einer riesigen Klinge abgeschabt und das Urgestein vom Wind mit einer kupfernen Patina überzogen worden wäre. Einst hatten Berge sich im Westen erhoben, purpurgraue Kegel, an denen das vom eintönig flachen Land ermüdete Auge sich festzuhalten vermocht hätte. Doch der Wind hatte schon vor langer Zeit die Berge abgetragen und weiträumig verstreute Felsbrocken auf den Ebenen hinterlassen, die ihrerseits auch erodiert und spurlos verschwunden waren.

Eine halbe Milliarde Jahre nach dem Tod des letzten echten Menschen war ein neuer Superkontinent entstanden. Er wurde von einer Wüste dominiert, die so rot war wie das Herz des alten Australien und glich einem riesigen Schild, das am blauen Antlitz der Erde befestigt war. Auf diesem Neu-Pangäa gab es weder natürliche Hindernisse noch Seen oder Bergketten. Heute war es ganz egal, wohin man ging, ob vom Pol zum Äquator oder von Ost nach West. Es sah überall gleich aus. Und der Staub war auch überall. Selbst die Luft war mit rotem Staub geschwängert, der von den regelmäßigen Sandstürmen aufgewirbelt wurde und den Himmel in eine milchig-trübe Kuppel verwandelte. Diese Welt hatte mehr Ähnlichkeit mit dem Mars als mit der Erde.