Salz gab es reichlich. Als vor hundert Millionen Jahren die Kontinente sich in ihrem Reigen zu diesem neuen Pangäa vereinigt hatten, war über dem größten Teil von Nordamerika ein Binnenmeer entstanden. Schließlich war es zu ein paar verstreuten Salzseen geschrumpft. Das Meer hatte jedoch eine riesige Salzablagerung hinterlassen, eine schimmernde Ebene, die sich über Hunderte von Kilometern erstreckt hatte. Das Salzbett war mit Schutt bedeckt worden, der von den Resten der erodierenden Berge heruntergespült wurde und lag nun unter metertiefem rotem Sand begraben. Aber es war noch da.
Nach kurzer Zeit hatte sie ein armtiefes Loch gegraben und holte mit den Händen Erde herauf, die mit grauweißem Salz durchsetzt war. Sie kaute die Erde, bis die Salzkristalle sich im Mund aufgelöst hatten und spie den Sand aus. Als sie das Salz zwecks späterer Übertragung an den Baum im Bauch gespeichert hatte, wurde Ultima von der Zwanghaftigkeit befreit.
Und wurde sich wieder der Sphäre bewusst. Sie hatte die ursprüngliche Position verändert. Und sie schwebte nun über dem Boden; sie sah einen Fingerbreit Licht darunter.
Sie näherte sich der Sphäre auf den Hinterfüßen und Knöcheln, wobei die Augen vor Neugier trübe leuchteten. Sie hatte keine große Angst. Es gab wenig Abwechslung in ihrer Wüstenwelt. Aber auch wenig Gefahr. In einer platten Landschaft fiel es Räubern schwer, sich auch nur an das langsamste und leichtsinnigste Opfer anzuschleichen.
Mit einem Finger berührte sie zögernd die Oberfläche der Sphäre. Sie war weder warm noch kalt. Sie war glatt, glatter als alles, was sie je zuvor berührt hatte. Die Härchen auf der Hand sträubten sich, als ob sie statisch geladen wären. Und sie roch etwas, den Geruch der Wüste selbst – einen versengten, verbrannten und trockenen Geruch.
Der Geruch nach verschmortem Metall war das Resultat der Exposition gegenüber dem Vakuum: ein Vermächtnis des Weltraums.
Einer nach dem andern kehrten die Leute vom Sammeln zum Baum zurück, kletterten auf die Äste und wickelten sich in die Blätter.
Ultima zog die lederartigen Blätter um den Körper. Die Bauch-Wurzel kroch auf sie zu, suchte das Ventil im Bauch und schob sich hinein wie eine neu angeschlossene Nabelschnur. Als die salzige Flüssigkeit in den Baum strömte, wurde Ultima mit einem Gefühl der Sicherheit, des Friedens und der Rechtschaffenheit belohnt. Diese Stimmung wurde von Chemikalien im Baumsaft induziert, den sie im Gegenzug für ihr Blut erhielt, doch war es deshalb nicht weniger tröstlich. Damit wurde sie unmittelbar dafür belohnt, dass sie den Baum ernährte, und die langfristige Belohnung war das Leben selbst. Der Baum beherzigte das Prinzip von Geben und Nehmen. Menschenabkömmlinge und Baum verhielten sich nicht wie Parasiten zueinander. Sie bildeten eine echte Symbiose.
Aber etwas stimmte nicht. Ultima verspürte ein Unbehagen, ohne dass sie dieses Gefühl zu artikulieren vermocht hätte.
Obwohl der warme Saft sie mit grüner Schläfrigkeit einlullte, musste sie ständig daran denken, wie das Kind im Kokon gelegen hatte, mit dem Daumen im Mund und der vor ihm zusammengerollten Bauch-Wurzel. Etwas hatte nicht gestimmt. Jeder Instinkt sagte ihr das.
Der Saft pulsierte stärker im Bauch, und einschläfernde Chemikalien wurden ausgeschüttet. Mit dieser starken Dosis wollte der Baum sie dazu bewegen, hier in der Sicherheit des Kokons zu bleiben. Aber sie wurde das Gefühl einfach nicht los, dass etwas nicht stimmte.
Sie zog die Bauch-Wurzel heraus und stemmte sich mit Schultern und Beinen gegen den Kokon. Er platzte auf, und sie fiel auf den Boden.
Sie wurde von Licht und Wärme überwältigt. Obwohl die Sonne schon tief stand, war es immer noch heller Tag. Im Innern des Kokons verstrich die Zeit in einem anderen Takt – nach einem Takt, den der Baum vorgab. Aber der Boden war hart und staubig. Außer ein paar Regenrinnen hatte es den Anschein, als ob das Unwetter nie stattgefunden hätte.
Es war niemand zu sehen. Alle Kokons waren geschlossen – alle außer einem. Kaktus schaute zu ihr herab; ihr kleiner Kopf lugte aus dem halbgeschlossenen Kokon. Die verspielt wirkende Kaktus schlüpfte zwischen den Blättern hervor und ließ sich neben Ultima auf den Boden fallen.
Ultimas Unbehagen steigerte sich.
Sie lief um den Fuß des Baums herum und stellte fest, dass der Kokon ihres Babys noch in der Astgabel war. Er war aber dicht versiegelt und ließ sich auch nicht öffnen, als sie es versuchte. Kaktus gesellte sich zu ihr, als ob das alles ein Spiel wäre. Die beiden gruben die Finger in die Nahtstellen zwischen den versiegelten Blättern und versuchten sie angestrengt grunzend aufzubrechen.
Früher wäre eine Person auf die Idee gekommen, die Kapsel mithilfe eines Werkzeugs zu öffnen. Aber das war einmal. Es gab keine Werkzeugfertigung mehr, und alle Artefakte der Menschen waren längst verrottet, außer ein paar Pithecinen-Steinäxten, die in tiefen Erdschichten begraben waren. Und Ultima und Kaktus waren mit der Lösung ungewöhnlicher Probleme überfordert, weil die Routine auf ihrer monotonen Welt kaum jemals unterbrochen wurde.
Schließlich öffnete der Kokon sich mit einem Schmatzen.
Ultimas Baby war noch immer ins weiße baumwollartige Material eingehüllt, mit dem der Kokon ausgekleidet war. Doch Ultima sah auf den ersten Blick, dass die ›Baumwolle‹ sich verdickt hatte. Sie hatte sich ums Gesicht des Babys geschlossen, und Tentakel schoben sich in Mund, Nase, Augen und Ohren.
Kaktus wich mit einem Ausdruck des Ekels zurück.
Beide wussten, was das bedeutete. Sie hatten es zuvor schon gesehen. Der Baum tötete Ultimas Baby.
Ein neues Pangäa.
Hundert Millionen Jahre, nachdem Erinnerung in ein namenloses Grab gefahren war, hatte der amerikanische Doppelkontinent sich wieder nach Osten bewegt. Während der Atlantik sich schloss, driftete Afrika nordwärts über den Äquator und drückte Eurasien infolgedessen noch weiter nach Norden. Derweil verschob Antarktika sich auch nach Norden und stieß mit Australien zusammen, worauf diese neue Formation sich ins östliche Eurasien hineinschob. So wurde der neue Superkontinent geboren. Im Innern, weit von der mäßigenden Wirkung der Meere entfernt, stellten sich extreme Bedingungen ein – höllisch heiße und trockene Sommer und mörderisch kalte Winter.
Alle Bewegungshindernisse waren abgebaut worden. Es fiel der Startschuss für alle Pflanzen und Tiere, sich in alle Richtungen auszubreiten. Das war eine Parallele zur großen globalen Vermischung, die die Menschen während ihrer ein paar tausend Jahre währenden Herrschaft über den Planeten erzwungen hatten – und wie damals war eine vereinte Welt zugleich auch eine verarmte Welt. Es war in schneller Folge zum Massensterben gekommen.
Und im Zeitablauf wurde es immer schlimmer.
Beim neuen Superkontinent setzte sofort die Alterung ein. Die tektonischen Kollisionen hatten neue Gebirge aufgefaltet, und während sie wieder erodierten, reicherte der Schutt die Ebenen mit chemischen Nährstoffen wie Phosphor an. Jedoch fanden keine neuen Gebirgsentstehungs-Ereignisse mehr statt, keine neue Auffaltungen. Die letzten Berge wurden abgetragen. In den Erdboden einsickerndes Regenwasser und Grundwasser wuschen die letzten Nährstoffe aus, und als die weg waren, entstanden keine neuen mehr.
Neuer roter Sandstein wurde gebildet: rostrot, so rot wie die leblosen Wüsten des Mars einst gewesen waren – die Signatur der Leblosigkeit, von Erosion und Wind, von Hitze und Kälte. Der Superkontinent wurde zu einer weiten roten Ebene, die sich über Tausende von Kilometern erstreckte und nur von den verwitterten Stümpfen der letzten Berge aufgelockert wurde.