Gleichzeitig wurden durch den sinkenden Meeresspiegel die flachen Kontinentalschelfe freigelegt. Während sie austrockneten, verwitterten sie auch schon und entzogen der Luft Sauerstoff. Auf dem Land starben viele Tiere den Erstickungstod. Und als in den Weltmeeren der vom Pol zum Äquator verlaufende Temperatur-Gradient abflachte, wurden auch die Meeresströmungen abgewürgt. Das Wasser stand ab.
Zu Land und zu Wasser starben die Spezies aus wie Laub, das im Herbst von den Bäumen fiel.
In einer austrocknenden Welt waren die alten Stratageme der Konkurrenz und der Antagonismus Räuber-Beute nicht mehr brauchbar. Die Welt hatte nicht mehr die Energie, komplexe Nahrungsketten und -pyramiden aufrechtzuerhalten.
Stattdessen hatte das Leben auf ältere Strategien zurückgegriffen.
Das Teilen war so alt wie das Leben selbst. Sogar die Zellen von Ultimas Körper waren das Ergebnis von Zusammenschlüssen primitiverer Formen. Die ältesten Bakterien waren einfache Lebewesen gewesen, die vom Schwefel und der Wärme der höllischen frühen Erde lebten. Für sie war das Erscheinen von Cyanobakterien – den ersten Photosynthese-Treibenden, die Kohlendioxid mit Hilfe von Sonnenlicht in Kohlenhydrate und Sauerstoff umwandelten – eine Katastrophe, denn reaktionsfreudiger Sauerstoff war für sie ein tödliches Gift.
Die Überlebenden siegten durch Kooperation. Ein Schwefel-Fresser verschmolz mit einer anderen primitiven Lebensform, einem frei lebenden Schwimmer. Später wurde ein Sauerstoff atmendes Bakterium in den Verband integriert. Die dreiteilige Entität – Schwimmer, Schwefel-Liebhaber und Sauerstoff-Atmer – erlangten die Fähigkeit der Reproduktion durch Zellteilung und vermochten Nahrungspartikel einzulagern. In einer vierten Absorption lagerten ein paar wachsende Komplexe grüne Photosynthese-Bakterien ein. Das Ergebnis waren schwimmende grüne Algen, die Vorfahren aller Pflanzenzellen.
Im Verlauf der Evolution war oft geteilt worden, sogar genetisches Material. Selbst die Menschen und ihre Abkömmlinge, bis hin zu Ultima, waren wie Kolonien aus kooperativen Wesen, von den hilfreichen Bakterien im Magen-Darm-Trakt, die Nahrung verwerteten bis zu den vor Äonen integrierten Mitochondrien, den ›Kraftwerken‹ der Zellen.
Und daran hatte sich bis jetzt auch nichts geändert. Joan Usebs Intuition hatte sie nicht getrogen: Auf die eine oder andere Art hatte die Zukunft der Menschen in der Kooperation gelegen, miteinander und mit den Lebewesen um sie herum. Doch diesen finalen Ausdruck der Kooperation hätte nicht einmal sie vorherzusehen vermocht.
Der Baum, ein entfernter Spross des Borametz aus Erinnerungs Zeit, hatte die Prinzipien der Kooperation und des Teilens quasi auf die Spitze getrieben. Nun vermochte der Baum nicht mehr ohne die Termiten und anderen Insekten zu überleben, die Nährstoffe zu den tiefen Wurzeln beförderten und auch nicht ohne die pelzigen Säugetiere mit den klaren Augen, die ihm Wasser, Nahrung und Salz brachten und seine Samen einpflanzten. Sogar die Blätter gehörten streng genommen zu einer anderen Pflanze, die auf ihm lebte und sich von seinem Saft ernährte.
Andererseits hätten die Symbionten, einschließlich der Menschenabkömmlinge, aber auch nicht ohne die Feuchtigkeit des Baums zu überleben vermocht. Die zähen Blätter schützten sie vor Räubern, vor der sengenden Hitze und sogar vor den Jahrhundert-Stürmen. Der Saft wurde über die Bauch-Wurzeln eingespeist, über die der Baum im Gegenzug Nährstoffe bezog: Babys wurden nicht gestillt, sondern in der Obhut des Baums durch diese pflanzlichen Nabelschnüre ernährt. Der aus dem tiefsten Grundwasser gewonnene Saft half ihnen auch über die schlimmsten superkontinentalen Trockenzeiten hinweg – und weil der Saft mit entsprechenden Chemikalien angereichert war, heilte er auch Wunden und Krankheiten.
Und der Baum war sogar an der menschlichen Reproduktion beteiligt.
Es gab noch immer Sex, aber nur eingeschlechtlichen Sex, weil es nur noch ein Geschlecht gab. Sex diente nur noch dem Knüpfen und der Festigung sozialer Bande und dem Vergnügen. Die Leute brauchten keinen Sex zur Vermehrung mehr, nicht einmal zum Vermischen genetischen Materials. Der Baum kümmerte sich darum. Er reicherte seinen Saft mit Körperflüssigkeiten eines ›Elters‹ an, vermischte sie und ließ sie im mächtigen Stamm zirkulieren und injizierte sie dann in jemand anders.
Die Leute gebaren aber noch. Ultima selbst hatte das Kind geboren, das nun in seiner pflanzlichen Wiege lag. Dieses Erbe, diese Bindung zwischen Mutter und Kind hatte sich als zu elementar erwiesen, um sie aufzugeben. Aber man fütterte sein Kind nicht mehr, weder an der Brust noch sonst wie. Alles, was man seinem Kind geben musste, war Zuwendung und Liebe. Man zog es nicht mehr auf. Das übernahm der Baum mit den organischen Mechanismen in den blättrigen Kokons.
Natürlich fand noch immer eine gewisse Auslese statt. Nur die Individuen, die gut mit dem Baum und miteinander zusammenarbeiteten, wurden integriert und durften zum zirkulierenden Strom von Keim-Material beitragen. Die Kranken, die Schwachen und die Behinderten wurden mit pflanzlicher Erbarmungslosigkeit ausgestoßen.
Eine so starke Annäherung der Biologien von Flora und Fauna wäre früher unwahrscheinlich erschienen. Doch im Lauf der Zeit vermochten Adaption und Selektion einen vierflossigen Lungenfisch durchaus in einen Dinosaurier zu verwandeln oder in einen Menschen, ein Pferd, einen Elefanten oder in eine Fledermaus – und sogar wieder zurück in einen Wal, eine fischartige Kreatur. Da war es eine vergleichsweise leichte Übung, Menschen und Bäume über eine schlauchartige Verbindung aneinanderzukoppeln.
In den Mythen der verschwundenen Menschheit war dieses neue Arrangement schon ansatzweise vorweggenommen worden. Die mittelalterliche Legende vom Lamm des Schafsgewächses hatte vom Borametz gehandelt, einem Baum, dessen Früchte winzige Lämmer enthielten. Die Legenden der Menschheit waren nun vergessen, aber die Sage vom Borametz, der Tier und Pflanze vereinte, fand in diesen letzten Tagen einen eigentümlichen Widerhall.
Aber auch dafür hatte man wie immer einen Preis zahlen müssen. Die komplexe Symbiose mit dem Baum hatte die Menschenabkömmlinge in eine Art Stasis versetzt. Mit der Zeit hatten die Körper von Ultimas Art sich auf die Hitze und Trockenheit spezialisiert, vereinfacht und einen höheren Wirkungsgrad entwickelt. Nachdem die entscheidende Verknüpfung erst einmal hergestellt war, hatten Baum und Leute sich so gut aneinander angepasst, dass keine Seite mehr imstande war, diese Verbindung kurzfristig zu lösen.
Seit die schlangenartigen Schnüre sich in den Bauch der Menschenabkömmlinge gesenkt hatten und seit die Leute sich erstmals in den Schutz der Borametz-Blätter geflüchtet hatten, waren zweihundert Millionen Jahre vergangen, von denen kein Chronist kündete.
Doch selbst jetzt, nach dieser langen Zeit, waren die symbiotischen Bindungen noch schwach im Vergleich zu älteren Kräften.
Auf seine gemächliche pflanzliche Art war der Baum zu dem Schluss gelangt, dass die Leute sich im Moment kein Baby mehr zu leisten vermochten. Ultimas Kind wurde wieder absorbiert und seine Substanz in den Baum zurückgeführt.
Das war eine uralte Kalkukation: In schweren Zeiten zahlte es sich aus, die verwundbaren Jungen zu opfern und die ausgereiften Individuen am Leben zu erhalten, die in besseren Zeiten wieder Nachwuchs bekommen würden.
Aber das Kind war fast schon alt genug, sich selbst zu ernähren. Es fehlte nicht mehr viel, und es wäre lebensfähig gewesen. Und es war Ultimas Baby: Das erste, das sie bekommen hatte und vielleicht auch das einzige, das sie je bekommen durfte. Es war ein Widerstreit uralter Instinkte. Und das war ein Versagen der Adaption, dieser Konflikt der Instinkte.