Es war ein urzeitliches Kalkül, eine alte Geschichte, die von unzähligen Großmüttern an unzählige Generationen weitergegeben worden war. Doch für Ultima, hier am Ende der Zeit, war dieses Dilemma so schmerzlich, als ob es eben erst im Höllenfeuer geschmiedet worden wäre.
Es dauerte eine Weile, bis die Entscheidung fiel. Und am Ende war die Bindung zwischen Mutter und Kind stärker als die Bande zwischen Symbionten. Sie stieß die Hände in die baumwollartige Substanz und riss ihr Kind aus dem Kokon. Sie zog die Bauch-Wurzel heraus und die weißen Fasern aus Mund und Nase. Das Kind öffnete mit einem schmatzenden Geräusch den Mund und drehte den Kopf in alle Richtungen…
Kaktus schaute erstaunt zu. Ultima stand keuchend und mit offenem Mund da.
Was nun? Ultima stand mit dem Baby im Arm da. Sie hatte sich dem Baum widersetzt, dem sie ihr Leben verdankte, und war nun auf sich allein gestellt – ohne durch Instinkt oder Erfahrung auf diese neue Situation vorbereitet worden zu sein. Aber der Baum hatte versucht, ihr Baby zu töten. Sie hatte keine Wahl gehabt.
Sie trat einen Schritt vom Baum zurück. Dann noch einen. Und wieder einen.
Bis sie rannte, an der Stelle vorbei rannte, wo sie nach dem Salz gegraben hatte – die Sphäre war verschwunden und nur noch eine vage Erinnerung –, und sie rannte immer weiter mit dem Baby im Arm, bis sie zu den Wänden des Steinbruchs kam, die sie blitzschnell erklomm.
Sie schaute nach unten in die Grube, deren Boden mit den geduckten stummen Gestalten der Borametz-Bäume durchsetzt war. Und da kam Kaktus mit einem trotzigen Grinsen angerannt.
II
Das Land war kahl. Es gab ein paar verkrüppelte Bäume und Büsche mit steinharter Rinde und nadelspitzen Blättern, außerdem Kakteen, die so klein und hart wie Kieselsteine und mit langen, giftigen Stacheln gespickt waren. Diese Pflanzen schützten ihre Wasservorräte und hatten sich buchstäblich eingeigelt; Ultima und Kaktus würden nur im äußersten Notfall das Risiko eingehen, die Verteidigung zu durchbrechen.
Man musste aufpassen, wohin man die Füße und Hände setzte.
Es gab Löcher im roten Wüstenboden. Sie leuchteten in einem kräftigen Rot und sahen irgendwie aus wie Blumen; sie hoben sich kaum gegen den roten Erdboden ab und fielen eigentlich nur wegen der dunklen Knoten in der Mitte auf. Leichtsinnige Eidechsen und Amphibien, und hin und wieder sogar ein Säugetier liefen in diese gut getarnten Fallen – und entkamen ihnen auch nicht mehr, weil diese Löcher nämlich Münder waren.
Diese tödlichen Mäuler gehörten Kreaturen, die in engen Bauten unter der Erdoberfläche lebten. Bei den haarlosen und augenlosen Wesen mit Beinen, die zu flossenartigen Stummeln mit Grabklauen verkürzt worden waren, handelte es sich um Nagetiere. Sie gehörten zu den letzten Nachfahren der Abstammungslinien, die einst den Planeten beherrscht hatten.
Dieses offene Terrain ohne jede Deckung begünstigte keine großen Räuber, und die Überlebenden hatten neue Strategien entwickeln müssen. Diese wühlenden Ratten-Mäuler hatten die Umtriebigkeit und das Sozialverhalten ihrer Vorfahren längst verloren und fristeten ihr Dasein nun in Erdlöchern. Die von den Klima-Exzessen abgeschirmten Ratten-Mäuler hatten einen langsamen Metabolismus und sehr kleine Gehirne, und sie verließen die Bauten nur, wenn sie den Drang zur Paarung verspürten. Sie stellten kaum Ansprüche ans Leben und waren auf ihre Weise zufrieden.
So schlauen Geschöpfen wie Ultima und Kaktus fiel es aber nicht schwer, den Ratten-Mäulern auszuweichen. Seite an Seite gingen die Gefährtinnen weiter.
Sie kamen zu einer schmalen Rinne; sie war fast völlig mit Geröll verstopft, das das Regenwasser hier abgelagert hatte. Aber es floss immer noch ein Rinnsal salzigen Wassers. Ultima und Kaktus gingen in die Hocke, wobei Ultima das Baby abschirmte, und dann tauchten sie das Gesicht ins Wasser und tranken dankbar.
Ultima fand etwas Grünes in der Feuchtigkeit. Es war eine Art Blatt – länglich, dunkel und leicht gewölbt. Die Form war uralt und sogar zu primitiv, um auf die Idee zu kommen, dem Licht entgegen zu streben. Es handelte sich um den Abkömmling eines Lebermooses, das sich im Lauf der Zeit kaum verändert hatte. Es war eine fast unveränderte Kopie einer der ersten Pflanzen, die das Land kolonisiert hatten – ein Land, das sich nicht allzu sehr von diesem unwirtlichen Ort unterschieden hatte. Die Geschichte hatte sich wiederholt, und das Lebermoos hatte einen Lebensraum gefunden. Neugierig zupfte Ultima das Blatt vom Stein, an dem es haftete. Sie kaute es – es schmeckte wachsartig und klebrig –, küsste ihr Kind und fütterte es mit dem Blatt. Das Baby schlürfte es mit einem saugenden Geräusch und rollte dabei die kleinen Augen.
In der Nähe eines dieser kieselsteinartigen Kakteen erspähte Ultima einen Käfer mit einem silbernen Rücken, der versuchte, ein Dungkügelchen durch eine schmale Spalte zu schieben. Ultima spielte kurz mit dem Gedanken, sich den Käfer zu schnappen.
Als der Käfer in den Schatten des Kaktus eintauchte, schoss eine kleine rote Gestalt aus der Dunkelheit. Es war eine Eidechse, kürzer als Ultimas kleiner Finger, und der Kopf war noch kleiner als der Käfer selbst. Trotzdem schloss die Eidechse die Kiefer ums Hinterteil des sich mühenden Käfers. Ultima hörte ein leises Knirschen: Der Käfer wedelte mit den Beinen und Antennen, vermochte aber nicht loszukommen. Nach dem Energieausbruch breitete die Eidechse segelartige Lappen am Hals und an den Beinen aus. Durch die Kühlflächen wirkte die Eidechse gleich doppelt so groß wie zuvor, aber durch die rote Farbe war sie trotzdem gut im Staub Pangäas getarnt. Vor Überhitzung geschützt schickte sie sich nun an, dem Käfer die salzigen Lebenssäfte aus dem Panzer zu saugen.
Doch dieser Genuss war der Eidechse nicht vergönnt. Wie aus dem Nichts kam ein Vogel zum Schauplatz gerannt. Das Wesen hatte ein schwarzes Gefieder und darunter verborgene rudimentäre Flügel – es war flugunfähig. Ohne zu zögern und mit tödlicher Präzision stürzte der Vogel sich auf die Eidechse und öffnete einen gelben Schnabel voller winziger Zähne. Die Eidechse ließ den Käfer los, faltete die Kühlflächen zusammen und versuchte sich unter den Kaktus zu flüchten. Doch der Vogel hatte das Reptil schon an einem Bein gepackt und zog es zurück ins Licht, wobei er den kleinen Körper heftig durchschüttelte.
Der verstümmelte Käfer schleppte sich davon, nur um von Kaktus’ kleiner Pfote aufgehoben und zum Mund geführt zu werden.
Es gab viele Vögel in der Gegend; diese uralte Linie war nämlich viel zu anpassungsfähig, um nicht auch in dieser lebensfeindlichen, umgemodelten Welt einen Platz zu finden. Aber es gab dieser Tage kaum noch fliegende Vögel. Wozu sollten sie noch fliegen, wenn es kein Flugziel gab, das nicht genauso aussah wie das hier? Also hatten die Vögel den Flugbetrieb eingestellt und in der großen Einöde viele Formen ausgeprägt.
Nun schossen noch mehr Eidechsen unter dem Kaktus hervor, die durch den Angriff des Vogels aufgeschreckt worden waren. Es waren ihrer viele, und alle waren sie kleiner als das Sonnensegel, das der Vogel sich geschnappt hatte – sie waren sogar kleiner als Ultimas Fingernagel. Sie waren so winzig, dass sie die Kieselsteine und Rinnen im Boden wie Berge und Täler überwinden mussten, sah Ultima. Die aus dem Schlaf gerissenen Kreaturen huschten in alle Richtungen und suchten Deckung unter den Felsbrocken und Steinen.
Ultima schaute fasziniert zu.
In dem Maß, wie Pangäa verdorrte, waren die größeren Spezies ausgestorben. In der Wüstenei des Superkontinents gab es keinen Unterschlupf für ein Lebewesen von Ultimas Größe und schon gar nicht für eine Gazelle oder einen Löwen. Im größten Maßstab war das uralte ›Räuber und Beute‹-Spiel ausgespielt.