Doch im kleineren Maßstab fasste eine neue Ökologie Fuß. Unter Ultimas Füßen waren Ritzen im Stein und Trichter im Sand, es waren Löcher in Borametz-Bäumen und im Wurzelgeflecht. Noch in der flachsten Landschaft gab es eine Topographie, wo man sich vor Räubern zu verbergen oder in den Hinterhalt zu legen vermochte – oder auch nur sich einzugraben und vor der Welt zu verstecken, falls man klein genug war.
Wenn die Welt der kleinen Maßstäbe auch noch viele Möglichkeiten bot, so war sie aber auch eine Welt, auf der warmblütige Arten keine Zukunft hatten.
Alle Warmblütigen mussten eine hohe Körpertemperatur aufrechterhalten. Doch es gab eine Grenze, bis zu der man sich eine isolierende Behaarung und Fett zulegen konnte, ohne dass man zu einem bewegungsunfähigen Fettklops wurde. Und die Pulsfrequenz ließ sich auch nicht beliebig erhöhen. Die letzten der schrumpfenden Maulwurf-Leute waren bis zu einer Größe von einem Zentimeter geschrumpft und hatten eine Herzfrequenz wie ein hochtouriger Wankel-Motor entwickelt. Jedoch gab es unterhalb dieser Dimension immer noch genug Raum und Lebensmöglichkeiten.
Nur dass diese Nischen schon von Insekten, Reptilien und Amphibien besetzt waren. Die kleinen Kaltblütler verbargen sich vor der Hitze der Sonne und der Kälte der Nacht unter Steinen und im Schatten von Bäumen und Kakteen. Selbst in einer Handvoll Erdreich fand man heute winzige, perfekt modellierte Abkömmlinge von Fröschen, Lurchen und Schlangen – und sogar die unverwüstlichen Krokodile. Es gab winzige Lungenfische, silbrige kleine Kreaturen, die sich ans Landleben angepasst hatten, als die Binnengewässer austrockneten. Dieser größte Kontinent aller Zeiten wurde von den kleinsten Tieren aller Zeiten bewohnt.
Ohne die Unterstützung des Baums hätten so große, warmblütige Säugetiere wie Ultimas Leute nie so lang zu überleben vermocht. Sie waren wie Relikte aus früheren Zeiten und waren in dieser kargen Umwelt fehl am Platz. Als die Erde sich immer mehr erwärmte und austrocknete, schrumpften auch die Baum basierten Gemeinschaften und starben eine nach der anderen ab. Aber sie hielten noch immer die Stellung – genauso wie Ultima, das letzte Glied in einer Kette, die sich nun über hundert Millionen Generationen bis zu Purga selbst zurückerstreckte und in die noch tiefere Vergangenheit hinter ihr.
Ultima und Kaktus beobachteten die winzigen, im Schmutz krabbelnden Wesen. Dann fielen sie mit Geschrei über die Eidechsen her. Die meisten waren so klein, dass sie ihnen durch die Finger schlüpften – wenn man die Hand um sie schloss, sah man sie auf der anderen Seite gleich wieder entweichen –, und selbst wenn Ultima sich einen in den Mund zu stecken vermochte, war das eher etwas für den ›hohlen Zahn‹.
Die Eidechsen waren aber nicht nur zum Essen gut. Sie spielten. Selbst heute vermochte man noch Spaß zu haben. In der Stille von Neu-Pangäa hallten ihre Rufe und Schreie jedoch von den kahlen Felsen wider, und sie waren die einzigen Lebewesen weit und breit.
Der Sonnenuntergang kam schnell.
Durch den Regen war der Staub aus der Luft gewaschen worden. Als die Sonne den Horizont berührte, fiel Dunkelheit übers flache Land. Kleine Erhebungen, Dünen und Felsbrocken warfen meterlange Schatten. Das Licht am Himmel wechselte von Blau zu Purpur und färbte sich im Zenit schnell schwarz. Es war wie ein Sonnenuntergang auf einem luftlosen Mond.
Ultima und Kaktus nahmen das Baby in die Mitte und kuschelten sich aneinander. Jede Nacht ihres Lebens hatte Ultima in der pflanzlichen Umarmung des Baums verbracht. Nun griffen die Schatten wie Finger von Raptoren nach ihr.
Als die Temperatur sank, kam jedoch Ultimas Adaption an die Wüste zum Tragen.
Ihr Körper war noch immer warm. Tagsüber speicherte er Wärme in den Fettschichten und im Gewebe. In der Kälte der Nacht vermochte der Körper dann einen Großteil der Wärme an die Umgebung abzustrahlen. Ohne diesen Kühlungs-Trick hätte sie die Wärme durch Schwitzen abgeben müssen und hätte dadurch wiederum Wasser verbraucht, das zu vergeuden sie sich nicht leisten konnte. Kaktus und Ultima atmeten tief und langsam. So wurde bei jedem Atemzug der Sauerstoff voll ausgenutzt und der Wasserverlust minimiert. Ultimas Körper synthetisierte bereits Wasser aus den Kohlehydraten in der Nahrung, die sie gegessen hatte. Am nächsten Morgen würde sie mehr Wasser in den körpereigenen Reservoirs haben als an diesem Abend.
Trotz dieser erstaunlichen physiologischen Fähigkeiten blieb den beiden aber nichts anderes übrig, als an Ort und Stelle die Nacht auszusitzen, langsam zu atmen und in eine Art Trance zu fallen, während die Körperfunktionen in den Ruhezustand heruntergefahren wurden.
Derweil entfaltete sich über ihnen ein spektakulärer Himmel.
Ultima sah die Galaxis aus einer Perspektive, die einem Logenplatz gleichkam. Die großen, mit stecknadelkopfgroßen saphirblauen Jungsternen und rubinroten Nebeln verzierten Spiralarme umspannten den Himmel wie helle Korridore. In der Mitte der Scheibe war der galaktische Kern, eine wie Eidotter anmutende Ausbuchtung aus gelb-orangen Sternen. Das Licht hatte fünfundzwanzigtausend Jahre gebraucht, um vom überfüllten Kern hierher zur Erde zu reisen.
Zu Zeiten des Menschen war die Sonne in den Körper der großen flachen Scheibe eingebettet gewesen, sodass man die Galaxis im Profil gesehen hatte; ihre flammende Glorie war von den Staubwolken verschleiert worden, von denen die Scheibe übersät war. Doch nun war die Sonne auf ihrem langsamen Orbit um den Kern aus der Ebene der Galaxis hinausgewandert. Verglichen mit den paar tausend Lampen, die den Himmel der Menschen markiert hatten, war dies wie ein Blick auf die Lichter einer ausgedehnten Stadt.
Ultima wollte schier verzagen.
Ein heller Haken erschien am Himmel. Das war natürlich der Mond, der sich in dieser Nacht als Halbmond darstellte. Das gütige Antlitz, das lang vor der Geburt des Menschen schon auf die Erde herabgeschaut hatte, war über eine halbe Milliarde Jahre praktisch unverändert geblieben. Und doch schien diese schmale Mondsichel heller über dem neuen Superkontinent als über dem wohnlicheren Land der Vergangenheit. Denn der Mond leuchtete durch reflektiertes Sonnenlicht, und die Sonne war heller geworden.
Hätte Ultima gewusst, wo sie hinschauen musste, hätte sie vielleicht am Himmel neben der Scheibe der Galaxis eine trübe Schliere ausgemacht, die in klaren Nächten gut zu sehen war. Diese ferne Schliere war die als Andromeda bekannte Galaxis mit der doppelten Größe der Milchstraße. Sie war noch immer eine Million Lichtjahre von der Milchstraße entfernt; doch in Zeiten des Menschen hatte die Entfernung das Doppelte betragen, und selbst damals war sie schon mit dem bloßen Auge zu sehen gewesen.
Andromeda und die Milchstraße steuerten auf eine Kollision zu, die in noch einmal einer halben Milliarde Jahren erfolgen würde. Die beiden großen Sternensysteme würden einander durchdringen wie sich vermischende Wolken, wobei unmittelbare Zusammenstöße zwischen Sternen eher die Ausnahme sein würden. Aber es würde eine Initialzündung für die Entstehung von Sternen erfolgen, und eine Explosion von Energie würde die Scheiben beider Galaxien mit harter Strahlung überschütten. Es würde eine bemerkenswerte, aber tödliche Lightshow stattfinden.
Doch zu diesem Zeitpunkt würde es auf der Erde nicht mehr viel geben, was von der Katastrophe noch in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Denn das Auflodern der Sonne würde bereits vorher den Untergang allen Lebens auf der Erde einleiten.
Der Morgen brach so abrupt an wie immer. Eidechsen und Insekten verschwanden schnell in den Ritzen und Spalten, wo sie den Tag verschlafen würden, um auf den Abend zu warten.
Das Baby wimmerte. Sein Pelz war zu Büscheln verklebt, und die Stelle, wo die Bauch-Wurzel angeschlossen gewesen war, schien sich entzündet zu haben. Das Kind tat weiter sein Unbehagen kund, bis Ultima etwas Lebermoos vorgekaut hatte und es ihm einflößte. Kaktus war auch unleidlich und zupfte sich Schmutz und eingetrocknete Kotreste aus dem Fell.