Es war eine teure Strategie. Aber es war besser, einen von zehn in jeder Generation einem kurzen, qualvollen Leben zu überantworten, als das Aussterben der ganzen Art zu riskieren.
Durch die Nahrung im Magen und die Exkremente im Darm verriet ein Unsichtbarer sich natürlich trotzdem. Wenn er Hunger hatte, ließen die Geschwister ihn also hungern, bis er alle Exkremente ausgeschieden hatte und wieder schön transparent war. Und dann schickten sie ihn unter der tödlichen Sonne wieder hinaus und hofften, dass er ihnen noch eine Mahlzeit beschaffte, eher er endgültig den Geist aufgab.
Die Sphäre hatte diese Vorgänge beobachtet.
Die Sphäre war ein lebendiges Ding und doch keins. Sie war ein Artefakt und wiederum keins. Die Sphäre hatte keinen Namen für sich selbst oder ihre Art. Und doch hatte sie ein Bewusstsein.
Sie gehörte zu einer Horde, die in einem großen Gürtel der Kolonisation, der sich um die Galaxis spannte, zwischen den Sternen ausschwärmte. Und nun war die Sphäre zu dieser zerstörten Welt gekommen, um nach Antworten zu suchen.
Die Erinnerung reichte weit zurück. Für die Art der Sphäre war Identität etwas Amorphes, das man aufspaltete, teilte und durch Komponenten und Baupläne weitergab. Die Sphäre vermochte sich über Tausende von Generationen zurückzuerinnern… und dann verlor die Spur der Erinnerung sich im Nebel der Zeit. Die sich replizierenden Horden hatten vergessen, woher sie kamen.
Auf ihre Art wollte die Sphäre es wissen. Wie war dieser Sterne umspannende Roboter-Schwarm entstanden? War er das Ergebnis eines spontanen Entstehungsprozesses, auf irgendeinem Asteroiden aus mechanischen und elektronischen Bauteilen? Oder hatte es einen Konstrukteur gegeben – jemand anders, der die Erzeuger dieser schwärmenden Massen zum Leben erweckt hatte?
Seit einer Million Jahren hatte die Sphäre die Verteilung der Replikatoren in der Galaxis studiert. Das war nicht leicht, weil die Scheibe seit der Entstehung ihrer Art schon zwei Umdrehungen vollführt hatte, wobei die Sterne die robotischen Kolonisten wie Zentrifugen über den ganzen Himmel verstreut hatten. Mathematische Modelle hatten diese Umdrehungen rückgängig machen und die Sterne wieder am ursprünglichen Ort positionieren sollen, um die halb vergessene Expansion der Replikatoren zu rekonstruieren.
Und schließlich hatte es die Sphäre in dieses System und zu dieser Welt verschlagen, die sie – unter anderem – für den Ursprung hielt. Sie hatte eine Welt mit organischer Chemie gefunden und Lebewesen, die auf ihre Art ganz interessant waren. Aber es war eine sterbende Welt, die von ihrer Sonne überhitzt wurde, und das Leben war auf die Ränder eines Wüstenkontinents beschränkt. Es gab keine Anzeichen organisierter Intelligenz.
… Und doch schien es der Sphäre, als ob das uralte Gestein des Superkontinents hier und da mit Einschnitten, Rinnen und großen Löchern markiert war. Einst hatte hier Intelligenz gewaltet – vielleicht. Wenn ja, war sie diesen räudigen, kriechenden Kreaturen aber abhanden gekommen.
Die Sphäre verkörperte eine neue Ordnung des Lebens. Und zugleich war sie wie ein Kind, das seinen unbekannten Vater suchte. Die letzten Spuren der alten Konstruktionspläne der Mars-Roboter, die von längst toten NASA-Ingenieuren in Computer-Labors in Kalifornien und Südengland konzipiert worden waren und sich seitdem ständig verändert hatten, waren verloren. Es schien angemessen, dass dieses größte und seltsamste Vermächtnis der Menschheit rein zufällig entstanden war – und dass ihre Urheber ihrem Schicksal gefolgt waren.
Es gab hier nichts mehr in Erfahrung zu bringen. Mit dem Äquivalent eines Seufzens schwang die Sphäre sich zu den Sternen empor. Die kleine Welt fiel hinter ihr zurück.
Ultima kauerte sich im Schmutz zusammen, bis die Aasfresser-Geschwister das Fressen beendet hatten. Dann drückte sie ihr Baby an sich und stolperte davon, ohne das Verschwinden der Sphäre auch nur zu bemerken.
III
Ultima entfernte sich in westlicher Richtung vom Borametz-Steinbruch.
Nachts schmiegte sie sich mit ihrem Kind in Spalten im Gestein und versuchte die Geborgenheit des Kokons des Baums zu simulieren. Sie aß, was sie gerade fand – halb vertrocknete Kröten und im Schlamm vergrabene Frösche, Eidechsen, Skorpione und das Fleisch und die Wurzeln von Kakteen. Sie fütterte das Kind mit einem vorgekauten Brei aus Fleisch und Pflanzen. Aber das Kind spuckte das Zeug wieder aus. Es vermisste noch immer die Bauch-Wurzel und quengelte herum.
Ultima wanderte immer weiter.
Sie folgte keiner Strategie außer der, in Bewegung zu bleiben und ihr Kind aus den chemischen Fängen des Baums zu befreien. Alles Weitere würde sich finden. Wäre sie intellektuell dazu in der Lage gewesen, dann hätte sie vielleicht darauf gehofft, auf andere Leute zu stoßen und einen Ort zu finden, an dem sie zu bleiben vermochte – vielleicht sogar eine Gemeinschaft, die unabhängig von den Bäumen lebte.
Das wäre indes eine trügerische Hoffnung gewesen, denn es gab auf der ganzen Erde keine derartigen Gemeinschaften mehr. Sie wusste es nicht, aber sie war gestrandet.
Das Land stieg an. Ultima ging in grobkörnigem Sand und Kieseln.
Nach einem halben Tag kam sie zu einem Ort mit flachen, glatten Hügeln. Sie sah, dass diese erodierten Stümpfe sich kilometerweit nach Norden und Süden hinzogen, bis zum staubigen Horizont und darüber hinaus. Sie ging durch die Überreste einer hohen Bergkette, die beim Zusammenstoß der Kontinente aufgefaltet worden war. Doch die staubigen Winde von Neu-Pangäa hatten die Berge längst zu diesen kümmerlichen Kuppen abgeschmirgelt.
Als sie sich umdrehte, sah sie ihre Spuren, begleitet von den Schleifspuren der Knöchel und den Stellen, an denen sie angehalten hatte, um zu essen, ihre Notdurft zu verrichten oder zu schlafen. Das waren die einzigen Spuren in diesen stillen Hügeln.
Zwei Tage brauchte sie für die Überquerung der Berge.
Dann fiel das Land wieder ab.
In der Ebene war die Vegetation etwas reichhaltiger, zum Beispiel stachlige Bäume mit krummen Ästen und Büscheln nadelartiger Blätter wie stachelige Pinien. Um die Wurzeln huschten ein paar Mäuse – robuste Überlebende der Nagetiere, die mit jedem Tropfen Wasser geizten – und unzählige Eidechsen und Insekten. Sie jagte winzige Wesen wie Geckos und Leguane und tat sich an ihrem Fleisch gütlich. Auf diesem lockeren Untergrund musste Ultima aber vorsichtig sein und nach Ratten-Mäulern und der glibberigen unsichtbaren Masse eines im Hinterhalt liegenden Jägers Ausschau halten.
Das Land fiel immer tiefer ab, und der Blick gen Westen weitete sich. Sie sah eine große Ebene. Hinter einer Art Küstensaum war das Land weiß, weiß wie Knochen, und es erstreckte sich wie ein Laken zu einem messerscharfen, geometrisch präzisen Horizont. Ein schwacher Wind blies ihr ins Gesicht. Er trug schon den Geruch von Salz mit sich. Nichts regte sich, so weit das Auge reichte.
Sie hatte einen Rest des austrocknenden Binnenmeers erreicht. Es gab noch immer Wasser hier draußen – es dauerte sehr lang, bis so ein Meer ausgetrocknet war –, aber der enge Wasserstreifen war so salzhaltig, dass dort kein Leben gedieh, und wurde von diesem weißen Salzsee eingerahmt, der sich bis zum Horizont erstreckte.
Ultima drückte das Baby an sich und setzte den Abstieg fort.
Sie erreichte die Ausläufer des Salzsees. Parallele Bänder markierten den früheren Küstenverlauf. Sie schöpfte ein wenig Salz, leckte daran und spie das bittere Zeug sofort wieder aus. Es gab hier auch Vegetation, die im salzigen Boden zu leben vermochte, zum Beispiel kleine gelbe Stachelbüsche, die wie die Stechpalmen, Honeysweet und Wolfsmilch aussahen, die einst in den kalifornischen Wüsten ums Überleben gekämpft hatten. Versuchsweise brach sie einen Stechpalmenzweig ab und kaute die Blätter, aber sie waren zu trocken. Frustriert warf sie den Zweig weg.