Lucy zitterte trotz der Hitze. »Da kann man direkt Angst bekommen.«
Joan tippte gegen Lucys Bein. »Angst ist gut. Das beweist nämlich, dass du deine Phantasie einsetzt. Wenn ich intensiver darüber nachdenke, wer wir sind und wie wir hierher gekommen sind… bekomme ich manchmal auch Angst. Selbst jetzt.«
Lucy nahm ihre Hand. »Mutter, eins muss ich dir sagen. Deine Sicht des Lebens ist so gottlos.«
Joan zog sich etwas zurück. »Aha. Ich wusste, dieser Tag würde einmal kommen. Dann hast du also den großen Ju-Ju im Himmel entdeckt.«
Lucy fühlte sich in die Defensive gedrängt. »Du hast mich doch immer ermuntert, zu lesen. Es fällt mir eben schwer zu glauben, dass Gott nur ein anthropomorphes Konstrukt sei. Oder dass die Welt nur eine – eine riesige Maschine sei, in der wir nur winzige Rädchen sind.«
»Vielleicht gibt es noch Platz für einen Gott. Doch welche Art von Gott würde die ganze Zeit eingreifen? Und ist die Geschichte nicht so schon schön genug?
Sieh es doch einmal so. Denk an deine Großmütter. Du hast viele Vorfahren in jeder Generation, aber nur eine Großmutter mütterlicherseits. Also gibt es eine molekulare Kette des Erbes, die von jedem von uns in die tiefste Vergangenheit zurückreicht. Du hast zehn Millionen Großmütter, Lucy. Zehn Millionen, seit dieser Komet die Dinosaurier ausgelöscht und den ersten rattenartigen Primaten eine Chance gegeben hat. Stell dir vor, sie wären alle nebeneinander aufgereiht, deine Großmutter neben ihrer Mutter und die wiederum neben ihrer…
Anfangs hätten sie natürlich menschliche Gesichter.« Unter diesen Gesichtern wären die Schüler von Mutter gewesen, die Vorfahren der afrikanischen Population, von der Joan abstammte. Und wenn Lucy die Linie ihres europäischen Vaters zurückverfolgt hätte, dann hätte sie unter den sich verformenden Gesichtern Juna von Cata Huuk gesehen und etwas tiefer Jahna, das Mädchen, das dem letzten Neandertaler begegnet war, die ja auch von Mutters Gruppe abstammten. »Doch dann traten von einer Generation zur andern unmerkliche Veränderungen auf«, sagte Joan. »Allmählich verloren die Augen das Licht des Verstehens. Es gab Implosionen: eine abflachende Stirn, einen schrumpfenden Körper, ein affenartiges Gesicht und zuletzt die große anatomische Rückentwicklung zu den großäugigen Kreaturen, die auf den Bäumen lebten – und das Schrumpfen setzte sich immer weiter fort, die Augen wurden immer größer und die Gehirne immer primitiver…« Der letzte gemeinsame Vorfahr von Menschen und einer anderen hominiden Spezies, den Neandertalern, befand sich eine Viertelmillion Jahre in der Vergangenheit. Dann setzte die schimmernde Linie sich weiter nach unten fort, über Weit und ihre ästhetischen aufrecht gehenden Leute, dann über die Pithecinen und zurück in Capos Wald und noch tiefer, viel tiefer bis hin zu Purga, die im Licht eines Kometen an schlafenden Dinosauriern vorbeigehuscht war. »Und doch«, sagte Joan Useb, »war jedes dieser zehn Millionen Tiere, von denen fast keins ein Bewusstsein hatte und die aneinandergereiht sind wie Einzelbilder auf einer Filmrolle, dein Vorfahr. Aber du bist keinem von ihnen begegnet, Lucy, und du wirst auch keinem begegnen. Nicht einmal meiner eigenen Mutter, deiner Großmutter. Weil sie nämlich alle verschwunden sind: alle verschwunden, tot, in der Erde vereint. ›Reglos und kraftlos verharrt sie nun / Sie hört und sieht nichts mehr / Umgewälzt im täglichen Lauf der Welt / Mit Felsen, und Steinen, und Bäumen.‹«
»Wordsworth, richtig? Auch so ein Toter«, sagte Lucy trocken.
»Die Welt ist leider voller Toter. Jedenfalls ist das unsere Geschichte. Und während ich ein bescheidenes Verständnis des großen Mechanismus erlangte, der uns alle erschaffen hat, glaube ich auch das Übersinnliche geschaut zu haben. Das ist Gott genug für mich.« Joan seufzte. »Natürlich wirst du das alles für dich selbst herausfinden müssen – was natürlich am meisten Spaß macht.«
»Mama, bist du glücklich?«
Joan runzelte irritiert die Stirn. »Das hast du mich noch nie gefragt.«
Lucy sagte nichts und ließ sie nicht vom Haken.
Joan dachte darüber nach.
Wie all ihre Vorfahren war Joan aus den Tiefen der Zeit hervorgegangen. Doch im Gegensatz zu den meisten von ihnen hatte sie einen Blick in den dunklen Abgrund zu werfen vermocht, der ihr Leben umgab. Sie hatte die Kenntnis erlangt, dass ihre Vorfahren so ganz anders waren als alles in ihrer Welt und dass nichts wie sie bis in die fernste Zukunft zu überleben vermochte. Aber sie wusste auch, dass das Leben weitergehen würde – wenn auch nicht ihr Leben, wenn auch nicht dieses Leben –, so lang die Erde überdauerte und vielleicht sogar noch länger. Und das sollte für jeden genug sein.
»Ja«, sagte sie zu ihrer Tochter und umarmte sie. »Ja, Liebes, ich bin glücklich…«
Lucy bedeutete ihr mit einer Geste zu schweigen. Nun hörte Joan es auch: ein Rascheln, ein leises Weinen. Sie lugten um den Felsen.
Ein kleines Mädchen war im Netz gefangen. Es war nicht älter als fünf, nackt und hatte verfilztes Haar. Es weinte, weil es nicht an den Teller mit würzigem Gemüse herankam, den Joan auf den Boden gestellt hatte.
Joan und Lucy zeigten sich. Das Mädchen wich zurück.
Langsam und gemessenen Schritts gingen sie mit offenen Händen und beruhigenden Worten auf das wilde Kind zu. Sie blieben bei ihm, bis es sich beruhigt hatte. Dann streiften sie ihm vorsichtig das Netz ab.
»Es liegt Größe in dieser Sicht des Lebens… das… aus so einfachen Ursprüngen endlos viele wunderschöne und wunderbare Formen angenommen hat und noch immer annimmt.«
NACHWORT
Dies ist ein Roman. Ich habe versucht, die großartige Geschichte der Menschheit zu dramatisieren, nicht etwa zu erklären. Ich hoffe, dass meine Geschichte plausibel ist; dennoch sollte dieses Buch nicht wie ein Lehrbuch gelesen werden. Es beruht zu einem Großteil auf hypothetischen Rekonstruktionen der Vergangenheit durch Experten auf diesem Gebiet. In vielen Fällen habe ich mich für das entschieden, was ich für die jeweils plausibelste oder spannendste Idee von mehreren hielt. Doch ein Teil beruht auch auf meiner eigenen wilden Spekulation.
Ich bin Eric Brown sehr dankbar, der das Manuskript wohlwollend kommentiert hat. Die Professoren Jack Cohen und Ian Stewart von der Warwick University haben einen großen Teil ihrer wertvollen Zeit geopfert, um meine laienhaften Mutmaßungen durch fachlichen Rat zu fundieren. Ich stehe außerdem in der Schuld von Simon Spanton für die Unterstützung, die er mir zusätzlich zu seinen Pflichten als Herausgeber gewährt hat. Alle anderen Irrtümer liegen natürlich in meiner alleinigen Verantwortlichkeit.
Stephen Baxter
Great Missenden, Mai 2002
STEPHEN BAXTER
EVOLUTION
Roman
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY
Band 06/6449
Titel der englischen Originalausgabe
EVOLUTION