Das krokodilgesichtige Suchomimus-Weibchen pirschte am Meeresufer entlang. Die langen Klauen waren ausgefahren. Der täglichen Routine folgend suchte es nach Fisch. Der ein paar Tage zurückliegende Tod ihres Gefährten wirkte als ein dumpfer Schmerz nach, der aber langsam nachließ. Das Leben ging weiter; von der diffusen Trauer wurde sie nicht satt.
Andernorts jagte eine verstreute Gruppe Stegoceras. Diese Pachycephalosaurier hatten in etwa die Größe eines Menschen. Die Männchen hatten große Knochenkappen auf dem Kopf, um die kleinen Hirne bei den wilden Paarungskämpfen zu schützen, wenn sie wie Steinböcke die Köpfe gegeneinander rammten. Auch in diesem Moment stießen zwei große Männchen sich mit den gepanzerten Köpfen, und das knochige Knallen der Kollisionen hallte über die Ebene. Diese Spezies hatte wegen dieser Kämpfe ein großes evolutionäres Potential verschenkt. Die Notwendigkeit, eine so schwere knöcherne Schutzkappe zu tragen, hatte die Entwicklung des Pachycephalosaurier-Gehirns für Jahrmillionen gebremst. Die in ihrer biochemischen Logik gefangenen Männchen registrierten die wandernden Lichter am Himmel und die doppelten Schatten, die über den Erdboden glitten, nicht einmal.
An diesem Strand war es ein ganz normaler Tag in der Kreidezeit. Keine besonderen Vorkommnisse.
Doch nun kam etwas von Süden.
Der Krater war nun eine glühende Schüssel aus feuriger brodelnder Einschlagsschmelze. In ihm hätte ganz Los Angeles von Santa Barbara bis Long Beach Platz gefunden. Die Tiefe entsprach der vierfachen Höhe des Mount Everest. Der Rand ragte so hoch über den Boden, wie Überschall-Flugzeuge sich über die Erdoberfläche aufschwangen. Es war dies ein neunzig Kilometer durchmessender und dreißig Kilometer tiefer Krater, der in Sekunden geschlagen worden war. Aber dieses riesige Gebilde war instabil. Es hatten sich bereits große bogenförmige Spalten geöffnet, und die steilen Wände kollabierten auf einer Breite von Dutzenden Kilometern in Erdrutschen.
Und der Meeresboden wölbte sich auf. Die tieferen Gesteinsschichten der Erde waren durch den Aufprall des Kometen in den Mantel hineingedrückt worden. Nun federte das Gestein zurück, wobei es zwanzig Kilometer angehoben wurde und durch den riesigen ›Schmelztiegel‹ an die Oberfläche brach. Das erweichte Urgestein breitete sich schnell in einem großen kreisförmigen Gebiet aus und wurde in Sekunden zu einer vierzig Kilometer breiten Bergkette aufgefaltet. Gleichzeitig strömte Wasser in das Loch, das in den Meeresboden geschlagen worden war. Und schon fiel Auswurfschutt als ein glühender Gesteinsschauer auf den sich verschiebenden Kraterboden zurück. Die Temperaturen stiegen auf ein paar tausend Grad an. Die Hitze war so groß, dass selbst die Luft sich entzündete. Stickstoff verband sich mit Sauerstoff zu Giften, die noch jahrelang wirken würden. Es war ein Hexenkessel aus Feuer, Dampf und Schlackeregen.
An der Einschlagstelle wurde hoch erhitzte Luft mit interplanetarischer Geschwindigkeit verdrängt. Eine große kreisförmige Sturmfront breitete sich von Yucatan über Südamerika und den Golf von Mexiko aus. Die Druckwelle war noch immer überschallschnell, als sie zehn Minuten später die Küste von Texas erreichte.
Im Süden des Strands hatte die dünne Lichtsäule sich aufgefächert. Sie wurde diffuser, und die Farbe wechselte zu einem dunkleren Orange-Weiß. Winzige orangefarbene Tupfer stiegen an der Basis auf. Und nun legte ein dunkles Band sich über den südlichen Horizont. Noch immer lief das alles lautlos ab. Was da nahte, war nämlich viel schneller als der Schall. Die Dinosaurierherden waren ahnungslos, und die jungen Pachycephalosaurier vollführten noch immer ihren Tanz um die Beute.
Die Vögel und Pterosaurier kannten den Himmel aber. Eine Gruppe Pterosaurier war im Tiefflug übers Meer geflogen, um mit den hydrodynamisch geformten Schnäbeln Fische zu fangen. Nun machten sie kehrt und flogen wieder landeinwärts, wobei sie mit kräftigem Flügelschlag beschleunigten. Eine Schar kleiner möwenartiger Vögel folgte ihnen. Sie schwangen sich auf grau-weißen Flügeln empor, die im glühenden Kometenlicht zu pulsieren schienen.
Von den tausenden Dinosauriern reagierte nur Suchomimus auf die Lichtshow. Er wandte den Kopf Richtung Süden, und die geschlitzten Pupillen verengten sich beim Anblick dessen, was er sah. Einem Instinkt folgend kam er aus dem Wasser und lief die Küste hinauf. Der warme weiche Sand unter den Füßen erschwerte das Fortkommen. Aber Suchomimus rannte weiter.
Die jungen Raptoren hatten mit dem Panzer einer gestrandeten Schildkröte gespielt und hoben interessiert den Kopf, als Suchomimus an ihnen vorbeikam. In einem Winkel seines Bewusstseins ertönten Alarmsignale. Er verstieß gegen viele vorprogrammierte Regeln und wurde dadurch verwundbar. Aber ein tieferer Instinkt sagte ihm, dass die Dunkelheit, die sich am Horizont ausbreitete, gefährlicher war als jeder Raptor.
Er erreichte eine niedrige Dünenkette. Ein Fellknäuel wand sich unter einem Fuß hervor und floh so schnell, dass es vor den Augen verschwamm.
Über der Küstenebene erlosch das Licht.
Schließlich wurden die Dinosaurier doch unruhig. Die grasenden Pflanzenfresser-Herden, die Entenschnäbel und Ankylosaurier hoben den Kopf und richteten den Blick gen Süden. Der Schweif des abstürzenden Kometen war nicht mehr zu sehen und hinter einer Wand aus Dunkelheit verborgen, die den Horizont überspannte. Aber es war eine wandernde Wand, die brodelte und kochte. Blitze zuckten über die sich bewegende Fläche und ließen sie in einem purpur-weißen Licht erscheinen.
Nicht einmal diese letzten Sekunden vermittelten den Eindruck einer nahenden Katastrophe. Es war nur wie ein unheimliches Zwielicht. Die Dinosaurier wurden zum Teil sogar schläfrig, als das Nervensystem auf die reduzierte Helligkeit reagierte.
Und dann erreichte sie von Süden her die Druckwelle. Die lastende Stille wurde jäh von einem infernalischen Knall zerrissen wie von einer Explosion. Die Welle brandete mit voller Wucht gegen die Tierherden an. Entenschnäbel wurden in die Luft geschleudert. Die mächtigen Erwachsenen krümmten sich, und ihr Trompeten ging im plötzlichen Inferno unter. Der Kampf zwischen den dickköpfigen Stegoceras wurde unentschieden abgebrochen und nie wieder fortgeführt. Ein paar Ankylosaurier hielten sich auf den Beinen, drehten sich in den Wind und kauerten sich auf den Boden wie rundliche Bunker. Aber der Boden wurde um sie herum umgepflügt, die Vegetation ausgerissen und verstreut, und sogar die Seen wurden leergefegt. Die flachen Dünen explodierten über Suchomimus und begruben ihn in körniger Dunkelheit.
Doch genauso schnell wie sie gekommen war, ebbte die Schockwelle auch wieder ab.
Als Suchomimus spürte, dass das Erdbeben nachließ, grub er sich aus. Er nieste, um die Nase vom Sand zu befreien, wischte mit den durchscheinenden Augenlidern die Augen frei und rappelte sich auf.
Dann machte er ein paar vorsichtige Schritte. Der neue Boden war mit Geröll übersät, trügerisch und erschwerte das Gehen.
Die Küstenebene war nicht mehr wieder zu erkennen. Die Düne, hinter der Suchomimus Deckung gesucht hatte, war niedergerissen. Die Jahrhunderte lange, geduldige Arbeit des Winds war in Sekunden zunichte gemacht worden. Die Ebene war mit Schutt übersät: mit zerbröseltem Gestein, Schlick vom Meeresboden und sogar mit Seetang und kleinen Meerestieren. Über ihm brodelten nordwärts ziehende Wolken.
Der Lärm dauerte an. Es ertönten laute Salven wie von Geschützfeuer, als die Schallmauer durchstoßen wurde. Aber Suchomimus hörte nichts von alledem. Beim Durchgang der ersten Schockwelle waren ihm schon die Trommelfelle geplatzt, und er hatte das Gehör verloren.
Überall lagen Dinosaurier herum.
Auch die größten Entenschnäbel waren zerschmettert worden. Sie lagen mit gebrochenen Knochen und grotesk verrenkt unter Sandverwehungen und Schlick. Eine Gruppe Raptoren lag in einem verworrenen Knäuel aus schlanken Leibern da. Alt und Jung lagen wirr durcheinander, Eltern neben ihren Kindern, Räuber mit der Beute, alle im Tod vereint. Von den meisten Naturkatastrophen wie Fluten und Bränden wurden die Schwächsten und Kranken, die Jungen und Alten am schlimmsten heimgesucht. Oder bestimmte Arten – zum Beispiel durch Epidemien, die über eine Landbrücke zwischen den Kontinenten eingeschleppt worden waren. Diesmal war jedoch niemand verschont worden – niemand außer ein paar Glücklichen wie Suchomimus.