Und es war kalt – eine tiefe, beißende Kälte, die sich schnell durch die abgeschmolzenen Fettschichten in die Knochen fraß.
Sie kam zu den Überresten von etwas, was einmal ein kleiner Farnwald gewesen war. Sie scharrte mit den Pfoten auf dem Boden, aber er war seltsam hart – und so kalt, dass die Pfotenballen schmerzten. Doch als sie sich die Hand ableckte, sammelten sich ein paar Wassertropfen im Mund.
Noch vor ein paar Tagen war dieser Ort von tropischen Wäldern und Sumpfland bedeckt gewesen. Seit Jahrmillionen hatte es hier keinen Frost mehr gegeben. Doch nun war der Boden gefroren. Purga kratzte auf dem Boden und stopfte sich das merkwürdige kalte Zeug in den Mund. Langsam füllte der Mund sich mit Wasser, aber auch mit viel Asche und Schmutz.
Sie versuchte tiefer zu graben. Sie wusste nämlich, dass es auch nach dem größten Waldbrand noch Nahrung gab: gehärtete Nüsse, tief vergrabene Insekten und Würmer. Aber die Nüsse und Sporen waren unter einem fest gefrorenen Erdboden begraben, den Purga mit den kleinen Pfoten nicht zu durchdringen vermochte.
Sie ging weiter und ertastete mit den Schnurrhaaren einen Weg durch die Dunkelheit.
Sie erreichte eine flache Pfütze, bei der es sich um den Fußabdruck eines verschwundenen Ankylosauriers handelte. Die Schnauze stieß auf eine harte Oberfläche: Sie war beißend kalt und hart wie Stein. Die Kälte, die sich durchs Fell fraß, war kaum auszuhalten. Sie zog sich hastig zurück.
Genauso wenig wie mit Frost hatte sie bisher die Bekanntschaft von Eis gemacht.
Vorsichtig betastete sie mit Schnauze und Händen das Eis. Sie scharrte und kratzte – sie roch das Wasser, das irgendwo verborgen war und wurde schier verrückt, weil sie ihm nicht näher kam. Frustriert umkreiste sie die kleine Pfütze und untersuchte sie. Schließlich kam sie zu einer Stelle, wo der Fuß des Ankylosauriers etwas tiefer in den weichen, warmen Lehmboden eingedrungen war. Das Eis war hier dünner, und als sie draufdrückte, splitterte die Schicht und wölbte sich auf. Sie sprang erschrocken zurück. Der aufragende Eissplitter versank langsam im schwarzen Wasser. Vorsichtig kam sie wieder näher. Und als sie diesmal die Schnauze zögerlich in die Pfütze tauchte, fand sie Wasser: In der Kälte überzog es sich schon wieder mit einer neuen Eisschicht, aber es war noch flüssig. Sie sog es gierig ein und ignorierte dabei den bitteren Geschmack des mit Asche und Staub versetzten Wassers.
Angelockt von den Schlürfgeräuschen kamen Dritter und Letztes herbei. Sie vergrößerten das Loch, das sie ins Eis gebrochen hatte und schlürften das verunreinigte Wasser.
Zum ersten Mal seit dem Kometeneinschlag hatte die Lage für Purga sich wieder verbessert: nicht viel, aber immerhin.
Plötzlich berührte etwas sie an der Schulter: etwas Leichtes und Kaltes. Winselnd drehte sie sich um. Es war ein weißes Gespinst, das schon wieder schmolz.
Mehr Flocken fielen vom Himmel. Sie sanken unregelmäßig und langsam herab. Wenn eine Flocke direkt neben ihr herunterkam, sprang sie auf und schnappte sie mit dem Mund, als ob sie eine Fliege vom Himmel holte. Bald hatte sie den Mund voll weichem Eis.
Es schneite.
Das wurde ihr dann doch zu unheimlich. Sie drehte sich um und flüchtete sich in die Sicherheit des Baus.
Durch den Einschlag war verdampftes Meerwasser in die Luft geschleudert worden. Nachdem es wochenlang dort verharrt hatte, fiel es schließlich zurück.
Und es war viel Dampf. Eine wahre Sintflut ging über dem ganzen Planeten nieder.
Aber der Regen machte das Ganze nur noch schlimmer. Er war mit Schwefelsäure aus den Eiswolken gesättigt. Durch den Einschlag waren auch Wolken aus giftigen Metallen in die Atmosphäre aufgestiegen, die vom Regen ausgewaschen wurden. Nickel allein erreichte schon die doppelte Toxizitätsschwelle für Pflanzen. Durchs ablaufende Wasser wurden Substanzen wie Quecksilber, Antimon und Arsen aus dem Boden gewaschen und in Seen und Flüssen konzentriert.
Für die nächsten Jahre würde jeder Regentropfen vergiftet sein.
Der Regen wusch Staub und Asche aus. Die ganze Welt wurde von einer feinen schwarzen Schicht überzogen, einem dunklen Band, das als punktierte Linie im Sedimentgestein überdauern würde – ein Grenzlehm, der zusammengepresste Überrest einer Biosphäre, der eines Tages von Joan Useb und ihrer Mutter studiert werden würde.
Nach monatelanger Dunkelheit durchdrang schließlich die Sonne die Staub- und Ascheschichten, die den Planeten umspannten. Aber sie war nur wie ein Punktstrahler, der das gefrorene Land kaum erwärmte. Das düstere Zwielicht würde noch für ein Jahr anhalten.
Die wiederkehrende Sonne schien auf eine Landschaft des Todes herab.
Die tropischen Pflanzen waren, soweit sie nicht verbrannt waren, durch den Kälteschock eingegangen. Die überlebenden Dinosaurier litten an Hunger und unter der Kälte und wurden bald von den überlebenden Räubern gefressen. Hier und da regten sich jedoch Lebewesen in der Asche: Insekten wie Ameisen, Schaben und Käfer, Schnecken, Frösche, Lurche, Schildkröten, Eidechsen, Schlangen und Krokodile – Geschöpfe, die sich im Schlamm oder in tiefem Wasser verborgen hatten – und viele Säugetiere. Das Körperfell und die Angewohnheit, sich in Bauten unter der Erde einzugraben, schützten sie vor den schlimmsten Folgen der Kälte. Und dass sie Allesfresser waren, kam ihnen ebenso zugute.
Es war, als ob auf der Welt eine Rattenplage ausgebrochen wäre.
Und die Überlebenden pflanzen sich sogar fort. Trotz der Kälte und der Futterknappheit vermehrten sie sich nach dem Verschwinden der alten Räuber. Sogar in diesem Moment trennten die imaginären Skalpelle der Evolution Rohmaterial ab, das an eine untergegangene Welt angepasst war und schnitten und formten es um für die Bedingungen der neuen Welt.
Einsam und allein stolperte das Euoplocephalus-Weibchen durch die kalte Unendlichkeit und suchte nach den robusten Pflanzen, die es zum Leben brauchte.
Sie gehörte einer Ankylosaurus-Spezies an. Sie war zehn Meter lang und hatte, bevor der langsame körperliche Verfall einsetzte, sechs Tonnen gewogen. Der Körper war gepanzert: Rücken, Nacken, Schwanz, Flanken und Kopf wurden von Knochenplatten geschützt. Selbst die Augenlider waren knöcherne Scheiben. Die Platten waren in eine Schicht aus zähen Fasern eingebettet, wodurch der mächtige Panzer flexibel, aber auch schwer wurde. Der lange Schwanz lief in einem Knochen-Klöppel aus. Einst hatte sie mit dieser Peitsche ein junges Tyrannosaurier-Männchen krumm und lahm geschlagen – nicht dass sie sich daran erinnerte. Dieser Panzer bot keinen Platz für ein großes Gehirn und machte es auch überflüssig.
Im geologischen Maßstab war das große Sterben, das den Planeten heimsuchte, ein Wimpernschlag. Nicht aber für die Kreaturen, die davon betroffen waren. Für Tage, Wochen und Monate hielten die Todgeweihten am Leben fest – auch die Dinosaurier.
Die Euoplos hatten sogar relativ gute Voraussetzungen, um das Ende der Welt zu überleben. Die große Körpermasse, die enorme Stärke und der schwere Panzer in Verbindung mit einem günstigen Standort unter einer dicken Wolkendecke in der Nähe eines Flussufers hatten es ein paar Exemplaren ihrer Art ermöglicht, die ersten Stunden der Katastrophe zu überleben. Sie hatte zuvor schon Dürren überstanden und müsste eigentlich auch mit dieser unerwarteten Widrigkeit zurechtkommen. Alles, was sie tun musste, war in Bewegung zu bleiben und die Räuber abwehren.
Und so wanderte sie über die vereisende Erde und suchte nach Nahrung. Aber sie fand kaum welche.
Einer nach dem andern waren ihre Gefährten auf der Strecke geblieben, bis die Euoplo-Kuh schließlich allein war.