Aber es scharten sich immer mehr Überlebende um das Euoplo.
Diese Tiere waren alle klein. Purga und Letztes waren hier, und andere Säugetiere, die in den unterirdischen Bauten überlebt und sich während des langen Winters durch die konstante Körpertemperatur gewärmt hatten. Es gab auch Vögel, die durch das warme Blut und die geringe Größe ein Ereignis überlebt hatten, das ihren größeren Verwandten den Garaus gemacht hatte. Außerdem gab es Insekten, Schnecken, Frösche, Salamander und Schlangen – Lebewesen, die in Bauten, Sandbänken und tiefen Löchern ausgeharrt hatten. Diese kleinen Kreaturen waren daran gewöhnt, sich von Resten zu ernähren und sich in irgendeiner Ecke zu verkriechen; ihre Lebensumstände wurden auch durch den Kometeneinschlag kaum verschlechtert.
Nun rückten sie diesem Riesen auf den Leib, dem letzten der Ungeheuer, die ihre Welt mehr als hundert Millionen Jahre lang dominiert hatten. In den langen Monaten seit dem Einschlag hatten sie sich über eine Welt verbreitet, die wie eine Leichenhalle anmutete. Und dabei hatten viele von ihnen sich eine neue Nahrungsquelle erschlossen: Dinosaurier-Fleisch.
Die Zeiten hatten sich geändert.
Aussterben war ein endgültigerer Vorgang als der Tod.
Im Tod hatte man wenigstens noch den Trost, dass die Nachkommen überlebten und dass man in ihnen weiterlebte. Das Aussterben nahm einem selbst diesen Trost. Aussterben bedeutete nämlich nicht nur das Ende des eigenen Lebens, sondern auch das der Kinder, der Enkelkinder und überhaupt aller Angehörigen der eigenen Art bis zum Ende aller Zeiten; das Leben würde weitergehen, aber nicht für die eigene Art.
So schrecklich es auch war, das Artensterben war ein ganz normaler Vorgang. In der Natur wimmelte es von Arten, die durch Konkurrenz oder Symbiose miteinander verbunden waren und die alle ständig ums Überleben kämpften. Niemand konnte immer nur gewinnen; ein Scheitern war immer möglich, ob durch bloßes Pech, Naturkatastrophen oder das Eindringen eines besser ausgestatteten Konkurrenten, und der Preis des Scheiterns war immer schon das Massensterben gewesen.
Der Kometeneinschlag hatte jedoch ein Massensterben verursacht, und zwar eins der schlimmsten in der langen Geschichte dieses geschundenen Planeten. Der Tod suchte jedes biologische Reich heim, an Land, im Meer und in der Luft. Ganze Arten-Familien, ganze Königreiche verschwanden im Mahlstrom der Katastrophe. Es war eine große biotische Krise.
Und in einer solchen Zeit kam es auch nicht mehr darauf an, wie gut man sich angepasst hatte, wie erfolgreich man vor den Räubern floh oder mit den Nachbarn konkurrierte – weil die Spielregeln sich grundlegend geändert hatten. Bei einem Massensterben zahlte es sich aus, klein, zahlreich und weit verstreut zu sein und eine Versteckmöglichkeit zu haben.
Und was entscheidend war, man musste imstande sein, andere Überlebende zu fressen.
Doch selbst dann hing das Überleben ebenso vom Zufall wie von guten Genen ab: also nicht nur von der Evolution, sondern auch vom Glück. Trotz der geringen Größe und der Fähigkeit, sich zu verstecken, war über die Hälfte der Säugetiere mit den Dinosauriern ausgelöscht worden.
Trotzdem gehörte den Säugetieren die Zukunft.
Das Euoplo war sich nicht einmal bewusst, dass die Beine einknickten. Aber es spürte plötzlich eine feuchte Kälte am Bauch und – weil der Kopf ins Wasser hing – einen salzigen Geschmack im Mund.
Das Tier schloss die Augen, und die gepanzerten Lider blendeten das Licht aus. Der Saurier stieß ein tiefes Brummen aus, ein Geräusch, das andere Exemplare seiner Art noch kilometerweit entfernt gehört hätten, und spuckte die Brühe aus. Dann zog er sich in die knochige Rüstung zurück wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Bald hatte er das Gefühl, den auf den Sand und aufs Wasser prasselnden Regen nicht mehr zu hören und auch nicht das Trippeln der hässlichen kleinen Kreaturen, die um ihn herumschlichen.
Bis zum letzten Moment verspürte er keinen Frieden, nur einen großen reptilienhaften Verlust. Aber er spürte kaum Schmerz, als die spitzen kleinen Zähne sich an die Arbeit machten.
Dieser letzte große Dinosaurier war ein Vorrat an Fleisch und Blut, von dem sich die zänkische Tierhorde eine Woche lang ernährte.
Als schließlich der saure Regen die großen angenagten Rückenplatten des Euoplos schneeweiß verfärbte, begegneten Purga und Letztes einer kleinen Gruppe Primaten. Die meisten waren so alt wie Letztes oder noch jünger; sie waren wahrscheinlich schon nach dem Einschlag geboren worden und hatten nie etwas anderes kennen gelernt als diese desolate Welt. Sie waren mager und wirkten hungrig. Entschlossen. Zwei von ihnen waren Männchen.
Sie rochen merkwürdig und waren nicht einmal entfernt verwandt mit Purgas Familie. Aber sie waren unzweifelhaft Purgatorius. Die Männchen interessierten sich nicht für Purga; ihre Ausdünstungen sagten ihnen, dass sie schon zu alt war, um noch Nachwuchs zu bekommen.
Letztes warf ihrer Mutter einen letzten Blick zu. Und dann lief sie zu den anderen, wo die Männchen sie mit zuckenden Schnurrhaaren beschnüffelten und mit blutigen Schnauzen anstupsten.
Und nach diesem Tag sah Purga ihre Tochter nie wieder.
IV
Einen Monat später erreichte die allein wandernde Purga die Zone mit dem Farnbewuchs.
Mit neuem Mut beseelt lief Purga weiter, so schnell sie konnte. Es waren zwar nur niedrige, kriechpflanzenartige Gewächse, aber die Farnwedel spendeten einen dunkelgrünen Schatten. An der Unterseite sah sie kleine Sporensäcke wie braune Punkte.
Grün in einer rußgeschwärzten und aschfahlen Welt.
Farne waren robuste Pflanzen. Die Sporen waren so zäh, dass sie Feuer widerstanden und so klein, dass sie über große Entfernungen vom Wind verweht wurden. Manchmal entsprossen die neuen Triebe direkt dem überlebenden Wurzelsystem: Schwarzen Kriechwurzeln, die im Gegensatz zu Baumwurzeln unverwüstlich waren. In Zeiten wie diesen, als das Licht langsam zurückkehrte und Photosynthese wieder einsetzte, hatten die Farne kaum Konkurrenz. Inmitten des rußigen Schlamms und Lehms nahm die Welt eine Gestalt an, die sie seit dem Zeitalter des Devon vor vierhundert Millionen Jahren nicht mehr gehabt hatte, als die ersten Pflanzen – darunter auch urtümliche Farne – das Land erobert hatten.
Purga kletterte. Die größten Gewächse bildeten nur eine wenige Zentimeter hohe Plattform über dem Boden, aber sie war auch damit schon sehr zufrieden. Es genügte, um eine Flut von Erinnerungen auszulösen, wie sie über die Äste der großen verschwundenen Wälder der Kreidezeit gehuscht war.
Später grub sie sich ein. Es regnete noch immer, und der Boden war aufgeweicht. Sie grub aber in der Nähe der zähen Farnwurzeln, sodass sie doch noch einen zufrieden stellenden Bau hinbekam. Sie entspannte sich – zum ersten Mal seit dem Einschlag, vielleicht sogar zum ersten Mal, seit das verrückt gewordene Troodon die Hetzjagd auf sie veranstaltet hatte.
Das Leben stellte keine Anforderungen mehr an Purga. Eins ihrer Jungen hatte überlebt und würde sich fortpflanzen. Durch sie würde der Fluss der Gene in eine unbekannte Zukunft weiterströmen. Und es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass sie in früheren Zeiten sicher schon einem Räuber zum Opfer gefallen wäre. Es war die große Entleerung der Welt, der sie ihr Leben zu verdanken hatte – ein paar zusätzliche Monate, die sie auf Kosten vieler Milliarden Lebewesen herausgeschunden hatte.
So zufrieden, wie sie überhaupt nur sein konnte, legte sie sich in einem irdenen Kokon schlafen, der noch immer nach der Feuersbrunst roch, die eine ganze Welt verzehrt hatte.