Joan runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«
Bex hielt sich die Hände vor den Mund. »Ich hätte gar nichts sagen sollen. Meine Mutter wird ausflippen.« Aber ihre marsroten Augen strahlten.
Alyce hatte sich wieder in sich selbst zurückgezogen; sie schaute aus dem Fenster auf die Rauchsäulen der tausend Kilometer entfernten Waldbrände.
Angenommen, ich würde dich durch die Schichten in der Zeit zurückführen, hatte Joans Mutter zu ihr gesagt. Schon nach hunderttausend Jahren würdest du diese schöne hohe Stirn verlieren. Die Beine für den aufrechten Gang wären nach drei bis vier Millionen Jahren verschwunden. Nach fünfundzwanzig Millionen Jahren würde dir wieder ein Schwanz wachsen. Nach fünfunddreißig Millionen Jahren würdest du die letzten Menschenaffen-Merkmale verlieren, zum Beispiel die Zähne. Danach wärst du ein Affe, Kind. Und dann würdest du ständig schrumpfen. Vierzig Millionen Jahre in der Vergangenheit würdest du wie ein Lemur aussehen. Und zuletzt…
Zuletzt wäre sie ein kleines rattenartiges Ding, das sich vor den Dinosauriern versteckte.
Manchmal hatte sie im Freien schlafen dürfen, in der kühlen Luft der Badlands. Der Himmel über Montana war weit und mit Sternen übersät. Die Milchstraße, die Seitenansicht einer riesigen Spiralgalaxie, zog sich wie eine Straße durch die Nacht. Sie legte sich auf den Rücken und schaute zum Himmel hinauf. Dann stellte sie sich vor, dass die steinige Erde verschwunden wäre, mitsamt der Fracht aus Fossilien und allem Drum und Dran, und dass sie im Raum trieb. Sie fragte sich, ob dieses kleine Purgatorius-Wesen den gleichen Himmel gesehen hatte. Ob die Sterne seit fünfundsechzig Millionen Jahren ihre Bahn am Himmel zogen? Ob die Galaxis sich wie ein großes Wagenrad in der Nacht drehte…?
Doch heute Nacht, sagte sie sich, würde der Rauch des Vulkans die Sterne ausblenden.
EINS
Vorfahren
KAPITEL 1
Dinosaurierträume
Montana, Nordamerika, vor ca. 65 Millionen Jahren
I
Purga kroch aus einem Farndickicht am Rand der Lichtung. Es war Nacht, aber trotzdem hell – nicht etwa wegen des Monds, sondern wegen des Kometen, dessen spektakulärer Schweif sich durch den wolkenlosen Himmel zog und alle außer den hellsten Sternen ausblendete.
Dieses Wäldchen stand in einer breiten Tiefebene zwischen den Vulkanen im Westen – den Bergen, die sich zu den Rocky Mountains auffalten würden – und der Ebene der Appalachen im Osten. Heute Nacht war die feuchte Luft klar. Oft zogen aber von Süden Dunst und Nebelschwaden heran. Sie bildeten sich über dem großen Binnenmeer, das noch immer tief ins Herz Nordamerikas vorstieß. Der Wald wurde von Pflanzen beherrscht, die Feuchtigkeit aus der Luft aufzunehmen vermochten: Flechten bedeckten die schuppige Rinde der Araukarien, und sogar an den kleinen Magnolienbüschen hing Moos. Es war, als ob der Wald mit einer dicken grünen Lackschicht überzogen wäre.
Doch die Blätter waren übersäuert, das Moos und die Farne bräunlich verfärbt. Der durch die Gase der starken Vulkanausbrüche im Westen vergiftete Regen hatte Flora und Fauna gleichermaßen geschädigt. Es war ein ungesundes Klima.
Trotzdem träumten Dinosaurier auf der Lichtung.
Ankylosaurier hatten sich in einem schützenden Kreis versammelt und die Jungen in die Mitte genommen. Die gelbschwarzen Panzer waren dick mit glitzerndem Tau überzogen.
Diese riesigen Kaltblüter standen wie militärisches Gerät in der lauen Luft der Kreidezeit.
Im milchigen Licht hatten Purgas Augen eine Motte ins Visier genommen. Das Insekt saß dick und zufrieden auf einem Blatt und hatte die braunen Flügel zusammengefaltet. Mit einem präzisen Sprung schnappte Purga sich die Beute mit den Pfoten. Zuerst knabberte sie mit den kleinen Schneidezähnen die Flügel ab. Dann biss sie der Motte genüsslich in den Unterleib. Es hörte sich an wie der Biss in einen Apfel. In diesem kurzen Moment, wo sie den Mund voll Futter hatte, verspürte Purga einen Anflug von Zufriedenheit in ihrem sonst so entbehrungsreichen und harten Leben.
Die Motte verendete. Mit dem Fünkchen Bewusstsein empfand sie kaum Schmerz.
Nachdem Purga die Motte verspeist hatte, zog sie weiter. Es gab hier kein Gras als Deckung – die Gräser sollten das Land erst noch erobern –, aber es gab eine grüne Decke aus niedrigen Farnen, Moosen, Krüppelkiefern, Schachtelhalmen und Koniferenschösslingen und sogar ein paar Farbtupfer in Form von purpurroten Blumen. Sie vermochte sich fast lautlos durch diese Vegetation zu bewegen und sie als Deckung zu nutzen. In der Dunkelheit war die Einzeljagd die beste Strategie. Räuber legten sich im Dunkel der Nacht in den Hinterhalt. Eine Gruppe wäre viel auffälliger gewesen als ein einzelner Pirschgänger. Also jagte Purga allein.
Für Purga war die Welt eine Scheibe in Schwarz, Weiß und Blau, erleuchtet vom Licht des Kometen, das hinter hohen verstreuten Wolken hervordrang. Ihre großen Augen hatten nicht die hohe Farbempfindlichkeit der Dinosaurier-Augen – manche Räuber vermochten sogar Farben außerhalb des von Menschen wahrnehmbaren Spektrums zu sehen, zum Beispiel trübes Infrarot und funkelndes Ultraviolett –, doch dafür hatte sie eine gute Nachtsichtfähigkeit. Und Schnurrhaare, die wie taktile Radarstrahlen die Umgebung sondierten.
Purga hatte mit den Schnurrhaaren, einer spitzen Schnauze und kleinen, angelegten Ohren eher das Aussehen eines Nagetiers als eines Primaten. Sie hatte etwa die Größe eines Buschbabys. Auf dem Boden bewegte sie sich auf allen vieren und schleppte dabei den langen buschigen Eichhörnchenschwanz nach. Für menschliche Augen hätte sie eigenartig gewirkt – fast reptilienartig in ihrer reglosen Lauerstellung, vielleicht auch irgendwie unfertig.
Dennoch war sie, wie Joan Useb eines Tages herausfand, ein Primat, beziehungsweise ein Vorläufer dieser großen Tierklasse. Durch ihr kurzes Leben erstreckte sich ein molekularer Fluss, dessen Quelle die tiefste Vergangenheit und dessen Mündung die allerfernste Zukunft war. Und aus diesem Fluss der Gene, der im Verlauf von Jahrmillionen sich ständig verbreiterte und verzweigte, würde eines Tages die Menschheit auftauchen: Jeder Mensch, der je geboren wurde, würde von Purgas Kindern abstammen.
Sie wusste freilich nichts davon. Sie vermochte sich nicht einmal einen Namen zu geben. Sie war kein bewusstes Wesen wie ein Mensch – nicht einmal wie ein Schimpanse oder ein Makake; ihr Bewusstsein entsprach eher dem einer Ratte oder einer Taube. Ihr Verhalten war von starren Mustern geprägt und wurde von Trieben beherrscht, deren Gewichtung und Priorität sich ständig änderten und jeden Moment eine neue Resultierende bildeten. Sie war wie ein kleiner Roboter. Sie war sich ihrer selbst nicht bewusst.
Und doch verfügte sie über ein Bewusstsein. Sie kannte sogar Freude – die Zufriedenheit eines vollen Bauches, die beruhigende Sicherheit des Baus, das angenehme Kitzeln der an den Zitzen saugenden Jungen –, und in dieser gefahrvollen Welt kannte sie auch Angst. Sehr gut sogar.
Sie schlich um die Füße der träumenden Ankylosaurier. Als Purga unter den riesigen Leibern hindurchging, hörte sie über sich das Rumoren der Verdauung der Riesenechsen. Die Luft war von ihren erstickenden Fürzen geschwängert. Wegen der stumpfen Zähne mussten die Mägen der Dinosaurier die Aufgabe übernehmen, die ballaststoffreiche Nahrung zu zerkleinern und zu verdauen. Der Verdauungstrakt der Ankylosaurier arbeitete im Schlafen wie im Wachen.
Die Ankylosaurier waren Pflanzen fressende Saurier. Jedoch war dies auch ein Zeitalter großer, wilder Räuber. Deshalb wurden diese Tiere, die größer waren als Elefanten, durch einen Panzer geschützt, einen Verbund aus Knochen, Rippen und Wirbeln. Ein starkes, gelb-schwarzes Rückgrat prägte den Rücken. Die Schädel waren derart verstärkt, dass kaum noch Platz für das Gehirn war. Die Schwänze liefen in einer Art ›Morgenstern‹ aus, der Beine und Schädel zu zertrümmern vermochte.