Schnell sich vermehrende, kurzlebige Kreaturen erfüllten den Planeten. Fast die gesamte Population der Erde war in die neue Zeit hineingeboren worden und kannte nichts außer Asche, Dunkelheit und Aas. Während Purga schlief, verkrampften sich ihre Beine, und die Pfoten scharrten auf der Erde. Purga, eins der letzten Geschöpfe auf dem Planeten, die sich noch an die Dinosaurier erinnerten, wurde noch immer von den schrecklichen Echsen verfolgt – zumindest im Traum.
Eines Morgens wachte sie nicht mehr auf, und der kleine Bau wurde zu ihrem Grab.
Bald überzog eine Decke aus Sedimenten, die aus dem Meer sich abgelagert hatten, den riesigen Einschlagkrater. Schließlich versank die geologische Deformation unter einer tausend Meter dicken Kalksteinschicht.
Vom Teufelsschweif selbst blieben nur Spuren zurück. Der Kern war bereits in den ersten Sekunden des Einschlag-Ereignisses zerstört worden. Lang bevor der Himmel über der Erde wieder aufklarte, wurden die letzten Reste der Coma und des spektakulären Schweifs – der ätherische Leib des Kometen, der sozusagen den Kopf verloren hatte – vom Sonnenwind zerblasen und davongetragen.
Dennoch setzte der Komet eine Art Denkmal. Im Grenzlehm würde man nämlich Tektiten finden – Erdbrocken, die in den Weltraum geschleudert und beim Wiedereintritt in die Atmosphäre zu glasigen tränenförmigen Gebilden geschmolzen worden waren. Weitere Fundstücke waren Fragmente aus Quarz und anderen Mineralien, die von der Einschlagsenergie in seltsame gläserne Formen gepresst worden waren. Es gab Splitter von kristallinem Kohlenstoff, der normalerweise nur tief im Erdinneren vorkam und in diesen paar Sekunden elementarer Gewalt an der Erdoberfläche zusammen gebacken worden war: Kleine Diamanten funkelten in der Asche aus Kreidezeit-Wäldern und Dinosauriern. Es gab sogar Spuren von Aminosäuren. Das waren die komplexen organischen Verbindungen, die einst von den lang verschwundenen Kometen auf die jungfräuliche Erde gebracht worden waren – die Verbindungen, die die Entstehung von Leben auf der Erde überhaupt erst ermöglicht hatten. Es handelte sich in gewisser Weise um ein Wiedergutmachungs-Präsent von einem Besucher, der viel zu spät gekommen war.
Und als die Wolken sich schließlich verzogen und die Temperaturen wieder anstiegen, wurde auch das letzte ›Geschenk‹ des Kometen an die Erde ausgepackt. Riesige Mengen Kohlendioxid, die im Kalkstein des zertrümmerten Meeresbodens gebunden waren, entwichen in die Luft, und es wurde ein verheerender Treibhauseffekt ausgelöst. Die sich regenerierende Vegetation versuchte sich anzupassen. Die ersten Jahrtausende wurden von Sümpfen, Feuchtgebieten und Faulgas-Gebieten geprägt, in denen abgestorbene Vegetation Seen und Flüsse verstopfte. Auf der ganzen Welt entstanden mächtige Kohleflöze.
Durch die Sporen und Samen, die um die Welt geblasen wurden, gelangten schließlich neue Pflanzengemeinschaften zur Blüte.
Allmählich wurde die Erde wieder grün.
In der Zwischenzeit nagte der Zahn der Zeit an Purgas Überresten.
Ein paar Stunden nach ihrem Tod hatten Schmeißfliegen schon Eier in Augen und Mund abgelegt. Und bald ließen Fleischfliegen Larven auf die Haut fallen. Als die Maden sich in den Kadaver fraßen, brachen die Darmbakterien, die ihr ein Leben lang gedient hatten, aus. Die Eingeweide platzten. Der Inhalt ergoss sich über andere Organe, und der Kadaver verflüssigte sich wie ein stinkender Limburger Käse. Das lockte wiederum Fleisch fressende Käfer und Fliegen an.
In den Tagen nach ihrem Tod machten sich fünfhundert Insektenarten über Purgas Kadaver her. Nach einer Woche war nichts mehr von ihr übrig außer Knochen und Zähnen. Auch die DNA-Moleküle vermochten nicht lang zu überdauern. Proteine zerfielen in die ursprünglichen Bausteine, Aminosäuren, die sich wiederum in spiegelbildliche Substanzen aufspalteten.
Bald darauf flutete ein Schwall saures Wasser die kleine Höhle. Purgas Knochen wurden einen halben Kilometer entfernt in einer flachen Mulde abgelagert, zusammen mit den Knochen von Raptoren, Tyrannosauriern, Entenschnäbeln und sogar Troodons. Feinde, die im Tod vereint waren.
Mit der Zeit wurden immer mehr Schlammschichten von Überschwemmungen und über die Ufer tretenden Flüssen abgelagert. Unter dem Druck verwandelten die Schichten aus Schlick sich in Gestein. Und Purgas Knochen wurden in ihrem steinernen Grab auch umgewandelt, als mineralreiches Wasser in jede Pore gepresst wurde und sie mit Kalzit füllte, sodass die Knochen selbst zu Stein wurden.
Die tief begrabene Purga trat eine spektakuläre Reise an, die Jahrmillionen dauerte. Als Kontinente miteinander zusammenstießen, wölbte das Land sich auf und nahm die in ihm eingeschlossenen Passagiere mit wie ein Ozeandampfer, der eine Welle abreitet. Durch Hitze und Druck zerbrach das Gestein und verzog sich. Und die Erosion wirkte, eine unerbittliche zerstörerische Kraft, die die schöpferischen Auffaltungen der Erde austarierte. Im Lauf der Zeit geriet dieses Land zu einer zerklüfteten Landschaft mit Plateaus, Bergen und Wüsten-Bassins.
Schließlich legte die Erosion das Massengrab frei, das Purgas Knochen verschluckt hatte. Das zerbröselnde Gestein brachte versteinerte Knochen ans Licht. Skelettreste wurden an die Oberfläche gehoben und erwachten aus einem sechzig Millionen Jahre währenden Schlaf.
Von Purgas Knochen war nicht mehr allzu viel übrig. Sie waren in geologischen Zeiträumen zu Staub zerfallen. Die gründliche chtonische Konservierung war vergebens. Doch im Jahr 2010 würde ein entfernter Nachkomme von Purga direkt über einer merkwürdigen Schicht aus dunklem Lehm einen geschwärzten Splitter aus einer grauen Felswand ziehen und ihn sofort identifizieren – als einen winzigen Zahn.
Dieser Moment lag aber noch weit in der Zukunft.
KAPITEL 4
Der leere Wald
Texas, Nordamerika, vor ca. 63 Millionen Jahren
Plesi kletterte durch den endlosen Wald. Das eichhörnchenartige Wesen erklomm einen schuppigen Baumstamm und huschte über einen dicken Ast. Obwohl die Sonne fast im Zenit stand, herrschten hier schlechte und diffuse Lichtverhältnisse. Das Blätterdach war hoch über ihr, und die grüne Schicht des Bodens tief unter ihr. Im Wald war es still außer dem Rascheln der Blätter in der warmen Brise und den Rufen der Vögel, den farbenprächtigen Verwandten der verschwundenen Dinosaurier.
Es war ein Welten-Wald. Und er gehörte den Säugetieren – einschließlich Primaten wie Plesi.
Sie schaute den Ast zurück. Da waren ihre beiden Jungen, die sie als Stark und Schwach einordnete. Sie waren etwa halb so groß wie Plesi und klammerten sich an den Übergang zwischen Baum und Ast. Selbst jetzt schubste Stark Schwach unmerklich zur Seite. Bei manchen Spezies hätte man das kümmerliche Schwache vielleicht sterben lassen. Plesis Art bekam aber nur wenige Junge, und in einer unsicheren und gefährlichen Welt mussten alle fürsorglich behandelt werden.
Jedoch vermochte Plesi ihre Jungen nicht für immer zu beschützen. Sie waren beide schon entwöhnt. Sie hatten wohl schon gelernt, sich von den Früchten und Insekten zu ernähren, die diesen ihren Geburtsbaum bevölkerten, aber das genügte nicht – sie mussten in den Wald ausschwärmen und Nahrung suchen.
Und dazu mussten sie springen lernen.
Plesi kratzte an der schorfigen Rinde des Asts, spannte den Körper an und sprang.
Plesi war ein Plesiadapide und gehörte einer Spezies an, die eines Tages als Carpolestide bezeichnet werden würde. Plesi hatte große Ähnlichkeit mit ihrer Urahnin, Purga. Wie Purga hatte sie das Erscheinungsbild eines kleinen Eichhörnchens, mit einem schlanken Körper wie eine Ratte und einem buschigen Schwanz. Obwohl sie schon ein echter Primat war, hatte Plesi noch Purgas Krallen statt Fingernägeln, die Augen waren noch nicht nach vorn gerichtet und das Gehirn hatte sich auch kaum weiterentwickelt. Sie hatte auch noch die großen Nachtsicht-Augen, die Purga in der Zeit der Dinosaurier so gut gedient hatten.