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Dennoch fanden Veränderungen statt.

Schließlich hörte Plesi das leise Winseln ihres Babys.

Am Rand der Lichtung hatte Stark sich in einer Art Nest aus bräunlich verfärbten Wedeln zusammengekauert. Nachdem er vom Baum gefallen und auf die Lichtung gestürzt war, hatte er wenigstens die Geistesgegenwart besessen, in Deckung zu gehen. In Sicherheit war er deshalb aber noch lange nicht: Ein großer rotbäuchiger Frosch beobachtete ihn mit einer gewissen Neugier in den leeren Augen. Als er Plesi sah, machte Stark einen Satz und rannte zu seiner Mutter. Er suchte nach Plesis Zitzen, doch Plesi schnappte nach ihm und verweigerte ihm diesen Trost.

Plesi war zutiefst beunruhigt. Ein Carpolestid, der sich im Nest zu behaupten vermochte, aber keinen Instinkt für den Baum hatte – und der sich nicht einmal ruhig verhielt, wenn er exponiert war –, hatte schlechte Überlebensaussichten. Plötzlich wirkte Stark gar nicht mehr so stark. Plesi verspürte einen seltsamen Impuls, sich einen Gefährten zu suchen und sich noch einmal zu paaren. Doch fürs Erste biss sie Stark nur mit dem kräftigen Schneidezahn in die Seite und ging zum Baum zurück, von dem sie herabgestiegen war.

Aber sie hatte erst ein paar Körperlängen zurückgelegt, als sie erstarrte.

Die ausdruckslosen Augen des Räubers fixierten Plesi mit tödlicher Berechnung.

Der Räuber war ein Oxyclacnus. Er war ein schlankes Pelztier mit vier Beinen. Mit dem langen Körper und den kräftigen Beinen sah er aus wie ein zu groß geratenes Wiesel, obwohl Kopf und Schnauze eher an einen Bären erinnerten. Aber er war weder mit dem Wiesel noch mit dem Bären verwandt. Vielmehr handelte es sich um einen Ungulaten, einen frühen Angehörigen der großen Familie, die eines Tages behufte Säugetiere wie Schweine, Elefanten, Pferde, Kamele und sogar die Wale und Delphine umfassen würde.

Dieser Oxy wirkte plump, träge und sogar unfertig für ein Auge, das an Leoparden und Wölfe gewöhnt war. Aber diese Art hatte gelernt, sich durchs spärliche Unterholz des endlosen Waldes an Beute anzupirschen. Er vermochte sogar zu klettern und die Beute bis auf die unteren Äste der Bäume zu verfolgen. In dieser urtümlichen Zeit hatte der Oxy kaum Konkurrenz.

Und während er Plesi betrachtete, die sich furchtsam auf den Boden gepresst hatte, wurde der Oxy von zwei pragmatischen Fragen umgetrieben: Wie erwische ich dich? und Wie gut wirst du mir schmecken?

Plesi lag flach auf dem Boden. Sie zitterte, die Schnurrhaare zuckten, und die kleinen spitzen Zähne waren gebleckt. Aber sie war mit Instinkten ausgestattet, die über hundert Millionen Jahre zu Füßen der Saurier einen Feinschliff erfahren hatten. Und sie führte eine nüchterne Neueinschätzung des Risikos durch. Hier im Freien würde sie kein Versteck finden. Es würde ihr nicht gelingen, sich auf einen Baum zu flüchten und dem Zugriff des Oxys zu entziehen. Und wenn sie vor ihm zu fliehen versuchte, würde er sie leicht mit einer dieser schrecklichen Klauen aufspießen.

Sie hatte nur eine Möglichkeit.

Sie machte einen Buckel, riss den Mund auf und zischte so heftig, dass sie den Oxy mit Speichel besprühte.

Der Oxy wich bei der unerwartet aggressiven Reaktion dieser kleinen Kreatur zurück. Aber sie stellt doch keine Gefahr dar. Der zornige Oxy fasste sich wieder und wollte es Plesi heimzahlen.

Doch Plesi war schon im Unterholz verschwunden. Sie hatte nie vorgehabt, den Oxy anzugreifen; es war ihr nur darum gegangen, Zeit zu schinden. Und sie hatte Stark zurückgelassen.

Der junge Carpolestide presste sich unter dem geradezu hypnotischen Blick des Fleischfressers auf den Boden. Der Oxy versetzte Stark mit der Pfote einen Hieb und brach dem jungen Primaten das Rückgrat. Stark wurde von Schmerz durchflutet, wandte sich gegen den Angreifer und versuchte ihm die Zähne ins Fleisch zu schlagen. Im letzten Moment verspürte Stark so etwas wie Mut. Aber das half ihm nichts mehr.

Der Oxy spielte noch eine Weile mit dem verkrüppelten Jungtier. Dann fraß er es auf.

In dem Maß, wie die Welt sich erholte, prägten die sich verändernden Bedingungen ihre Bewohner.

Die Säugetiere experimentierten mit neuen Rollen. Die Vorfahren der heutigen Fleischfresser, zu denen auch Hunde und Katzen gehören, waren kleine, wieselähnliche Tiere und flinke, opportunistische Allesfresser. Aber beim Oxyclacnus zeichnete sich bereits die Spezialisierung der späteren Säugetier-Räuber ab: senkrechte Beine für hohe Ausdauer und starke permanente Zähne, die durch doppelte Wurzeln verankert und mit Höckern verbunden waren, um Fleisch zu zerkleinern.

Das alles war Teil eines uralten Musters.

Alle Lebewesen versuchten am Leben zu bleiben. Sie nahmen Nahrung zu sich, heilten sich selbst, wuchsen heran und mieden Räuber.

Doch kein Organismus lebte für immer. Die einzige Möglichkeit, dem Tod zu entgehen, war Fortpflanzung. Durch Fortpflanzung gab man genetische Informationen über sich an seine Nachkommen weiter.

Aber kein Nachkomme war mit seinen Eltern identisch. Jede Spezies enthielt in jedem Moment ein großes Potential der Variation. Jedoch mussten alle Organismen in einem Rahmen der Habitabilität existieren, der ihnen von der Umwelt vorgegeben wurde – eine Umwelt aus Wetter, Terrain und anderen Lebewesen, die sie ihrerseits prägten. Während mit unerbittlicher Härte ums Überleben gekämpft wurde, wurde der Umwelt-Rahmen ausgefüllt: Jede lebensfähige Variation einer Spezies, die einen Platz zum Überleben zu ergattern vermochte, wurde ausgeprägt.

Raum war aber knapp. Und der Wettbewerb um diesen Raum war unerbittlich und endlos. Es wurden mehr Nachkommen geboren, als zu überleben vermochten. Der Existenzkampf war gnadenlos. Die Verlierer wurden durch Hunger, Räuber und Krankheiten ausgemerzt. Diejenigen, die etwas besser an ihre Nische in der Umwelt angepasst waren als andere, hatten eine dementsprechend bessere Chance, den Kampf ums Überleben zu gewinnen – und die genetischen Informationen über sich an folgende Generationen weiterzugeben.

Aber die Umwelt war auch Veränderungen unterworfen, wenn das Klima sich änderte und Kontinente zusammenstießen. Dann vermischten die Arten sich über Landbrücken und wurden mit neuen Nachbarn konfrontiert. In dem Maß, wie die klimatischen Bedingungen und Lebensumstände sich änderten, änderten sich auch die Anforderungen an die Anpassung. Das Auswahlprinzip an sich verlor aber nicht seine Gültigkeit.

So vollzogen die Populationen der Organismen die Veränderungen der Welt von Generation zu Generation nach. Alle Variationen einer Art, die sich in den neuen Rahmen integrierten, wurden ausgewählt, und alle anderen, die nicht mehr lebensfähig waren, wurden der Nachwelt als Fossilien erhalten oder verschwanden spurlos. Unzählige solcher Wendepunkte markieren die Erdzeitalter. Solang die ›erforderliche‹ Variation noch innerhalb der genetischen Variabilität lag, änderten die Populationen sich unter Umständen schnell – genauso schnell, wie menschliche Züchter domestizierter Tiere und Pflanzen Änderungen vornehmen, um ihre Vorstellungen von Vollkommenheit in den ihnen unterworfenen Geschöpfen zu verwirklichen. Wenn die verfügbare Variation jedoch ausgeschöpft war, blieben die Veränderungen aus. Bis eine neue Mutation stattfand, die durch ein zufälliges Ereignis verursacht wurde, vielleicht durch Strahlungseinwirkung, und neue Möglichkeiten der Variation eröffnete.

Das war Evolution. Im Grunde war es ganz einfach: ein simples Prinzip, das auf genauso simplen, offensichtlichen Gesetzen beruhte. Aber es prägte jede Art, die jemals die Erde bevölkerte – von der Entstehung des Lebens bis zur endgültigen Auslöschung, die in ferner Zukunft unter einer aufgeblähten Sonne stattfinden würde.

Und es wirkte auch jetzt.

Es war hart.

So war das Leben.

Plesi hatte mit dem Oxy eine stillschweigende Vereinbarung getroffen. Nimm mein Kind. Verschone mich. Auch als sie durch die grüne Hölle huschte, sich in die Sicherheit der Bäume flüchtete und nach ihrer überlebenden Tochter suchte, hallte dieses Stratagem noch in ihrem Bewusstsein nach.