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Das und ein Gefühl, das aus dem tiefsten Innern emporstieg – ein Gedanke, den sie vielleicht so formuliert hätte: Ich hatte immer gewusst, es war zu schön, um wahr zu sein. Die Zähne und Klauen waren nicht verschwunden. Sie hatten sich nur versteckt. Ich hatte immer gewusst, dass sie zurückkommen würden.

Sie hatte den richtigen Instinkt. Zwei Millionen Jahre nach dem brüchigen, durch den Tod der Dinosaurier bedingten Waffenstillstand fielen die Säugetiere nun übereinander her.

In jener Nacht sah Schwach, die selbst verwirrt und verängstigt war, wie ihre Mutter im Schlaf zuckte und knurrte.

KAPITEL 5

Die Zeit der langen Schatten

Ellesmere Island, Nordamerika, vor ca. 51 Millionen Jahren

I

Es gab weder einen richtigen Morgen in diesen langen Tagen des Arktischen Sommers noch eine richtige Nacht. Doch als die Wolken sich vorm Antlitz der aufgehenden Sonne verzogen und Licht und Wärme durch die großen Blätter der Bäume drang, wallten Nebel vom sumpfigen Waldboden auf. Ein Geruch nach überreifen Früchten, verrottenden Pflanzen und dem feuchten Fell seiner Familie stieg in Noths feine Nase.

Es fühlte sich an wie ein Morgen, wie ein Neubeginn. Eine wohltuende Energie erfüllte Noths jungen Körper.

Er faltete die kräftigen Hinterbeine unter sich zusammen und stellte den dicken Schwanz auf. Dann huschte er über den Ast zu seiner Familie – zu Vater, Mutter und den neuen Zwillingsschwestern. Die versammelte Familie kämmte sich behaglich. Mit den geschickten Fingern der kleinen schwarzen Hände kämmten sie durchs Fell und befreiten es von Rindenstücken und Resten getrockneten Babykots und von ein paar parasitischen Insekten, die einen leckeren, blutig-saftigen Imbiss abgaben.

Vielleicht war es das aufkommende Licht, das den Gesang inspirierte.

Es begann weit entfernt. Ein trällernder Kanon aus den Stimmen eines Männchens und Weibchens, wahrscheinlich nur eines einzelnen Pärchens. Doch bald fielen mehr Stimmen in das Duett ein und schwollen zu einem Chor aus Jubelrufen an, die das ursprüngliche Thema mit Kontrapunkten und Harmonien anreicherten.

Noth lief zum Ende des Asts, um besser zu hören. Er lugte durch Vorhänge aus großen Blättern, die wie kleine Sonnenschirme sich nach Süden, der Sonne entgegen ausgerichtet hatten. Man vermochte weit zu blicken. Der den Pol umspannende Wald war licht, und die Bäume – Zypressen und Birken – standen weit genug auseinander, dass die Blätter das Licht der tief stehenden arktischen Sonne einzufangen vermochten. Auf den zahlreichen großen Lichtungen ästen plumpe, am Boden lebende Pflanzenfresser. Noths Augen stachen groß aus der Maske aus schwarzem Fell – wie die Augen seiner Ur-Ur-Ur-Ahnin Purga ermöglichten sie ihm eine gute Nachtsicht, wurden aber im Tageslicht leicht geblendet.

Die Botschaft des Lieds war einfach: Wir sind wir! Wenn du nicht zu uns gehörst, bleib weg, denn wir sind viele und stark! Wenn du zu uns gehörst, komm heim, komm heim! Die Ausdrucksform des Lieds ging aber noch über den reinen Nutzwert hinaus. Das meiste war zwar wahllos und dissonant wie Katzenmusik. In Teilen war es aber auch eine spontane vokale Symphonie, die für Minuten anhielt und Passagen von außergewöhnlicher harmonischer Reinheit enthielt, die Noth verzauberten.

Er hob den Kopf und rief.

Noth war eine Primatenart mit der späteren Bezeichnung Notharctus und gehörte zu einer Klasse namens Adapiden, die von den Plesiapiden der ersten Jahrtausende nach dem Kometen abstammte. Er hatte mit seiner hohen konischen Brust, seinen langen starken Beinen und den vergleichsweise kurzen Armen mit schwarzen Greifhänden Ähnlichkeit mit einem kleinen Lemuren. Der kleine Kopf hatte eine Schnauze und aufgestellte Ohren. Und er war mit einem langen, kräftigen Schwanz ausgestattet, der auch als Fettspeicher für den Winterschlaf diente. Er war nicht viel älter als ein Jahr.

Noths Gehirn war beträchtlich größer als das von Plesi und Purga, und dementsprechend vielgestaltiger war auch seine Interaktion mit der Welt. Es gab mehr in Noths Leben als nur die Grundbedürfnisse von Sex und Nahrung und das Gefühl von Schmerz; es gab Platz für so etwas wie Freude. Und es war Freude, die er in seinem Lied ausdrückte. Seine Eltern stimmten schnell ein. Sogar Noths kleine Schwestern versuchten sich im Singen, und ihre winselnden Stimmchen verschmolzen mit den Rufen der Erwachsenen.

Es war Mittag, und die Sonne hatte den Zenit erreicht. Dennoch stand sie tief am Himmel. Säulen aus trübem, grün gefiltertem Licht stachen durch die Bäume und wurden vom dichten warmen Dunst gestreut, der aus dem dampfenden Kompost am Boden stieg. Die Baumstämme warfen Schatten auf den Waldboden.

Das war Ellesmere, der nördlichste Teil Nordamerikas. Die Sommersonne ging niemals unter. Überm Horizont hängend zog sie endlose Kreise und tauchte die breiten Blätter der Koniferen in ihr Licht. Dies war ein Ort, an dem die Schatten immer lang waren, sogar im Hochsommer. Der um den Pol der Erde sich ziehende Wald hatte die Aura einer riesigen Baum-Kathedrale, als ob die Blätter Splitter von Kirchenfenstern wären.

Und überall hallten die Stimmen der Adapiden.

Durch den Gesang ermutigt kletterten die Adapiden die Äste zum Boden hinab.

Noth ernährte sich zwar hauptsächlich von Früchten. Doch nun stieß er auf einen dicken, juwelenartigen Käfer. Der schöne, blau-grün schillernde Panzer knackte, als er hineinbiss. Unterwegs folgte er den Duftmarken seiner Art: Ich bin hier entlang gekommen. Dieser Weg ist sicher… Hier habe ich Gefahr gesehen. Zähne! Zähne!… Ich gehöre zu dieser Sippe. Bruder, nimm diesen Weg. Fremder, halte dich fern…Ich bin ein Weibchen. Folge dieser Spur, um mich zu finden… Bei dieser letzten Botschaft verspürte Noth ein seltsames Ziehen in der Lendengegend. Er hatte Duftdrüsen an den Handgelenken und in den Achselhöhlen. Mit den Handgelenken fuhr er sich durch die Achselhöhlen und strich dann mit den Unterarmen über den Baumstamm. Mit den Knochenspornen an den Handgelenken ›ritzte‹ er den Duft ein und hinterließ eine unverwechselbare gekrümmte Markierung in der Rinde. Die weibliche Duftmarke war schon alt, denn die kurze Paarungszeit war längst vorbei. Aber der Instinkt sagte ihm, die Markierung mit seiner eigenen ›Multimedia‹-Signatur zu überschreiben, damit kein anderes Männchen auf die Fährte des Weibchens gelockt wurde.

Vierzehn Millionen Jahre nach dem Kometen wies Noth noch immer körperliche Merkmale der nachtaktiven Vorfahren auf, wozu auch die Duftmarkierung gehörte. Er hatte noch keine Zehennägel wie ein Affe, sondern Krallen wie ein Lemure. Er hatte große, aufmerksame Augen und wie Purga Schnurrhaare, um den Weg zu ertasten. Außerdem besaß er ein ausgezeichnetes Gehör, einen guten Geruchssinn und Ohren, die er wie Radarschüsseln schwenkte. Jedoch hatten Noths Augen trotz der Größe und guten Nachtsichtfähigkeit nicht mehr die optimale Anpassung nachtaktiver Tiere: ein Tapetum, eine gelbe reflektierende Schicht im Auge. Die Nase war immer noch empfindlich, aber trocken. Die pelzige und bewegliche Oberlippe verlieh dem Gesicht eine größere Ausdrucksstärke als den früheren Adapiden-Spezies. Und die affenartigen Zähne hatten nicht mehr den Kamm-Zahn – einen speziellen Zahn für die Fellpflege – der Vorfahren.

Wie jede Spezies in der langen evolutionären Linie, die von Purga in die unvorstellbare Zukunft geführt hatte, war auch Noths Spezies eine Art im Übergang – sie war mit den Relikten der Vergangenheit beladen und leuchtete zugleich im Versprechen der Zukunft.