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Letztlich war zwanghafte Trauer aber kontraproduktiv. Wenn Rechts sich nicht wieder erholte, gab es nichts, was er für sie zu tun vermochte. Er würde sie im Stich lassen müssen, und dann würde sie sicher sterben.

Die Tage gingen ins Land, und schließlich rutschte die Sonne, als sie im tiefsten Punkt der Umlaufbahn am Himmel stand, unter den südlichen Horizont. Anfangs waren die kurzen Nächte zwielichtig, und in klaren Nächten hoben sich purpurrote Lichtvorhänge in den weiten Himmel. Doch die Abstecher der Sonne in die Unsichtbarkeit wurden immer länger, und die Abschnitte, wo Sterne an einem tiefblauen Himmel leuchteten, wurden ebenfalls länger. Bald würde es wieder richtig dunkel werden im polaren Wald.

Das Wetter wurde schnell kälter und trockener. Regen fiel nur noch selten, und an manchen Tagen schien die Wärme der Sonne kaum die Nebelschwaden zu durchdringen. Viele Vögel, die in den Baumwipfeln lebten, waren bereits verschwunden und unter den verständnislosen Blicken der Primaten in dicht aufeinander folgenden Schwärmen in die wärmeren südlichen Gefilde abgeflogen.

Noth war erschöpft und derangiert, und seine Träume handelten von blitzenden Klauen und schnappenden Zähnen. Er hatte Visionen, dass seine kleine Schwester in riesigen Mäulern verschwand.

Ihr größtes Problem war nun der Durst. Es hatte so lang nicht mehr geregnet, dass die Baumwipfel schon verdorrten. Und die Bäume verloren bereits das Laub; die letzten Blätter waren verwelkt und braun. Bald musste Noth sich damit behelfen, jeden Morgen den kalten Tau von der Rinde zu lecken.

Schließlich machten die Geschwister sich, vom Durst getrieben, auf die Suche nach Oberflächenwasser. Unweit des nächsten großen Sees huschten sie mit großen Augen einen Baumstamm hinab.

Auf dem Weg zum Wasser kamen die Primaten an zwei Wesen vorbei, die wie Miniatur-Hirsche aussahen. Diese schnellen und einzeln lebenden Läufer hatten die Größe eines Hunds und lange Schwänze, die sie nachschleppten. Sie ernährten sich von Blättern und Fallobst. Sie waren Vorfahren der großen Artiodactylus-Familie, die eines Tages Schweine, Schafe, Kühe, Damwild, Antilopen, Giraffen und Kamele umfassen würde. Rechts scheuchte einen Frosch auf. Er hüpfte mit einem ärgerlichen Quaken davon. Sie wich zurück und schaute das fremdartige Geschöpf mit großen Augen an. Bald sahen sie noch mehr Amphibien – Frösche, Kröten und Salamander. Vögel bevölkerten die Büsche und erfüllten mit ihren schrillen Schreien die feuchte Luft.

Noth fühlte sich unwohl. Das Ufer war zu überlaufen. Noth und Rechts waren nämlich nicht die einzigen durstigen Geschöpfe in diesem kalten Dschungel.

Eine meterlange Kreatur wie ein langschwänziges Känguru rannte vorbei; es handelte sich um ein Leptictidium, das kleine Tiere und Insekten jagte. Als es mit der biegsamen Nase den Boden sondierte, scheuchte es einen Pholidocerus auf, einen stachelhaarigen Vorfahren der Igel. Er hoppelte davon wie ein Kaninchen. Und dort stand eine dicht gedrängte Pferdeherde. Die Tiere waren klein – nicht größer als Terrier, aber schon mit richtigen Pferdeköpfen. Vorsichtig bahnten diese edlen kleinen Geschöpfe sich einen Weg durchs Unterholz. Sie gingen auf Pfotenballen wie Katzen und hatten an jedem Fuß ein paar Hufzehen. Diese Art war erst vor ein paar Millionen Jahren in Afrika entstanden. Das raue Grollen eines hungrigen Fleischfressers schreckte die Pferdchen auf, und sie ergriffen sofort die Flucht.

Durch diese exotische Versammlung schlichen nun die zwei Primaten, legten Sprints ein und schlugen Haken.

Der See selbst lag still da und war mit Pflanzen, totem Schilf und blühenden Algen bedeckt. An manchen Stellen hatten sich schon dünne graue Eisflächen gebildet. Durchs offene Wasser wateten Vögel, Vorfahren der Flamingos und Säbelschnäbler, und große Wasserlilien trieben auf der Oberfläche.

Eine Spinne hing überm Wasser an einem seidenen Faden, und riesige Ameisen – jede so groß wie die Hand eines Menschen – flogen über den See, um neue Nester zu bauen. Durch diese Wolke aus Insekten flatterte eine Familie zarter Fledermäuse. Die fliegenden Säugetiere, die sich erst kürzlich entwickelt hatten und so groß und filigran wie Papierdrachen waren, schnappten nach den Insekten. Urtümliche knochige Fische und ein spiraliger Aal brachen durch die Wasseroberfläche und fingen das Futter aus der Luft.

Die Primaten fanden weit genug von den Räubern entfernt einen Platz, an dem sie ungestört zu trinken vermochten. Sie gingen in die Knie, tauchten die Schnauzen ins kühle Nass und sogen es dankbar ein.

Die größten Tiere von allen suhlten sich am schlammigen Ufer des Sees.

Ein Paar Uintatheria stand nebeneinander. Diese großen Tiere sahen aus wie übergroße Nashörner. Sie hatten sechs Hörner auf dem Kopf und lange obere Reißzähne wie ein Säbelzahntiger. Die dicke Haut war mit Schlamm verkrustet, der sie kühlte und die Insekten fernhielt. Sie grasten genüsslich den Seeboden ab und tranken das von Algen grün gefärbte Wasser, während ein dickes lebhaftes Jungtier um die Beine der Eltern strich und mit dem Kopf, aus dem erst die Ansätze der Hörner sprossen, die Säulenbeine rammte.

Noth behielt die mächtigen Füße ängstlich im Auge.

Am Ufer marschierte eine Moeritherium-Familie entlang. Die einen Meter großen Erwachsenen bewegten sich mit ruhiger Gelassenheit durchs Wasser und verständigten sich mit einem beruhigenden Grummeln, während die rundlichen Jungen zu ihren Füßen herumplanschten. Mit den langen Nasen grasten sie methodisch die Vegetation des Seebodens ab. Sie gehörten zu den ersten Proboscidea, den Vorfahren der Elefanten und Mammuts. Sie hatten zwar noch größere Ähnlichkeit mit Schweinen als mit Elefanten, waren aber schon intelligente und soziale Tiere.

Um die Pflanzenfresserherden schlichen Fleischfresser. Es handelte sich überwiegend um Creodonten, die wie eine Kreuzung aus Fuchs und Vielfraß aussahen. Und es gab ein Rudel behufter Räuber – wie Fleisch fressende Pferde. Zu diesen bizarren, Furcht einflößenden Kreaturen gab es im Zeitalter der Menschen keine Entsprechung.

Viele dieser Tiere wirkten langsam, träge und irgendwie missraten. Sie waren das Ergebnis der ersten Experimente der Natur, große Pflanzenfresser und Fleischfresser aus dem Bestand der Säugetiere hervorzubringen, die den Tod der Dinosaurier überlebt hatten. Das offene Grasland lag noch Millionen Jahre in der Zukunft, genauso wie die schlanken, langbeinigen und eleganten Pflanzenfresser, die sich in den üppigen Weiten einrichten würden und wie die klügeren und schnelleren Fleischfresser, die sie jagen würden. Wenn es soweit war, würden die meisten Spezies um Noth dem Massensterben anheim fallen. Aber die den Menschen bekannte Ordnung – die echten Primaten, die Huftiere, die Nagetiere und Ratten, das Damwild und die Pferde – hatte ihr Debüt bereits gegeben.

Im Moment gab es nirgendwo auf der Erde eine komplexere und dichtere Ökologie als hier auf Ellesmere Island. Dieser Ort war ein Knotenpunkt der großen Wanderwege durch den amerikanischen Doppelkontinent und übers Dach der Welt nach Europa, Asien und Afrika. Hier trafen sich Pangoline aus Asien, Fleischfresser aus Nordamerika, Huftiere aus Afrika, europäische Insektenfresser wie urtümliche Igel und sogar Ameisenfresser aus Südamerika und traten in Konkurrenz zueinander.

Plötzlich hob Noth den Kopf.

Aus dem Wasser schauten zwei Primaten ihn an, ein kräftiges Männchen und ein kleines Weibchen. Er vermochte das Männchen aber nicht zu riechen, vermochte nicht zu sagen, ob es ein Verwandter oder ein Fremder war. Er kreischte und fletschte die Zähne. Das Primaten-Männchen fletschte seinerseits die Zähne.