Plötzlich ertönte ein lautes Zischen. Mit einem Schrei ließ er die Nuss fallen und flüchtete sich auf einen höheren Ast.
Eine Kreatur von der Größe einer großen Hauskatze kroch unbeholfen auf das Nussversteck zu. Es schaute zu Noth auf und zischte erneut, wobei es einen rosigen Rachen mit kräftigen oberen und unteren Schneidezähnen entblößte. Mit einem Ausdruck der Zufriedenheit, dass es den Konkurrenten vertrieben hatte, holte das Geschöpf eine der Nüsse aus dem Vorrat heraus und knackte die Schale mit dem kräftigen Gebiss. Dann biss es auf der Schale herum und erweiterte das entstandene Loch. Schließlich gelangte es an den Kern und knabberte ihn geräuschvoll. Noth, der sich hinter dem Baumstamm versteckt hatte, wurde vom Schwall des süßen Aromas schier überwältigt.
Dieses Ailuvarus sah annähernd aus wie ein rudimentäres Eichhörnchen mit einem mausartigen Gesicht. Es hatte einen langen buschigen Schwanz, mit dem es wie mit einem Fallschirm den Sturz abbremste, wenn es vom Baum fiel – was oft geschah. Obwohl es nicht die biegsamen Hände und Füße eines Primaten hatte und kein sehr guter Kletterer war, hätte es wegen seiner Größe Noth mit Leichtigkeit abzuwehren vermocht.
Das Ailuvarus war eins der ersten Nagetiere. Die große robuste Familie war ein paar Millionen Jahre zuvor in Asien aufgetaucht und hatte sich dann über die ganze Welt verbreitet. Diese streiflichtartige Begegnung war ein Scharmützel am Anfang eines epochalen Kampfs um Ressourcen zwischen den Primaten und den Nagetieren.
Und die Nagetiere gingen jetzt schon als Sieger aus diesem Kampf hervor.
Einmal gelangten sie leichter an Nahrung als Primaten. Noth hätte einen Nussknacker gebraucht, um Hasel- oder Walnüsse zu essen und einen Mühlstein, um Körner wie Weizen oder Gerste zu verarbeiten. Doch die Nagetiere mit den starken und immer längeren Schneidezähnen vermochten selbst die härtesten Nussschalen und Spelzen zu knacken. Und bald würden sie auch die besten Früchte von den Bäumen fressen, ehe sie noch reif waren.
Und nicht nur das, die Nagetiere vermehrten sich auch viel stärker als die Primaten. Dieses Ailu vermochte in einem Jahr ein paar Würfe zur Welt zu bringen. Viele Junge verhungerten zwar, unterlagen im Konkurrenzkampf mit ihren Geschwistern oder fielen Vögeln und Fleischfressern zum Opfer. Aber es überlebten trotzdem genug, um die Linie fortzuführen. Dem Ailu bedeuteten seine Jungen weniger als dem Notharctus, das nur einmal im Jahr trächtig wurde und für das der Verlust auch nur eines Jungen eine Katastrophe war. Und die große Nachkommenschaft der Nagetiere bot den blinden Schöpfern der natürlichen Auslese jede Menge Rohmaterial; sie entwickelten sich in atemberaubendem Tempo.
Obwohl Primaten wie Noth viel intelligenter waren als Nagetiere wie das Ailu, vermochte seine Art nicht mit ihnen zu konkurrieren.
Es waren nicht nur die Plesiapiden, die in Nordamerika selten wurden. Es war nämlich kein Zufall, dass Noths Art in diesen peripheren Polarwald abgedrängt worden war. In der Zukunft würde Noths Linie weiter wandern, über das Dach der Welt nach Europa einwandern und von dort weiter nach Asien und Afrika. Auf diesem langen Marsch würden sie sich anpassen und ihre Gestalt verändern. In Nordamerika würden jedoch in ein paar Millionen Jahren die Nagetiere auf ganzer Linie siegen. Eine neue Ökologie würde entstehen, die von Goffern, Eichhörnchen, Packratten, Murmeltieren, Feldmäusen und Streifenhörnchen bevölkert wurde. Es würde keine Primaten mehr in Nordamerika geben: nicht für die nächsten einundfünfzig Millionen Jahre, als menschliche Jäger, weit entfernte Nachfahren des Notharctus, über die Beringstraße von Asien her einwanderten.
Als das Nagetier das Mahl beendet hatte, kroch Noth vorsichtig aus seinem Versteck. Mit den beweglichen Händen sammelte er die Reste der Kerne auf, die das Ailu hatte fallen lassen und stopfte sie sich gierig in den Mund.
Für ein paar Stunden am Tag wurde es am südlichen Himmel noch hell. Aber die Sonne zog nun ihre Kreise unter dem Horizont. Die Seen waren fast alle zugefroren, und die Bäume waren dick vereist. An manchen schimmerten gespinstartige Splitter, wo der Nebel Spinnennetze vereist hatte. Die Notharctus bewegten sich langsam und träge durch die Bäume und über den stummen Waldboden. Aber das spielte keine Rolle, denn der Wald vermochte ihnen in diesem Herbst sowieso kaum Nahrung zu bieten.
Dann kam ein letzter klarer Tag, als Schichten roter Wolken sich an einem violetten südlichen Himmel auftürmten und die purpur-grüne Aurora wie ein weiter Vorhang die Sterne verhüllte.
Die Notharctus stiegen zum Boden herab und gruben sich an Stellen, wo Laubschichten das Gefrieren des Bodens verhindert hatten, oder unter Baumwurzeln ein. In dieser Nacht würde es den bisher strengsten Frost des Winters geben, und sie alle wussten, dass es Zeit war, Schutz zu suchen. Also gruben die Primaten sich ein und bauten Höhlen, in denen auch Purga sich wohl gefühlt hätte. Es war, als ob die kurze Zeitspanne auf den Bäumen nur ein Traum von Freiheit gewesen wäre.
In tiefster Dunkelheit schob Noth sich durch Tunnel, die durch die durchziehenden Primaten-Körper geglättet wurden. Der Boden war mit Fellresten übersät. Schließlich führte seine feine Nase ihn zu Rechts.
Sanft beschnupperte Noth seine Schwester. Sie schlief schon. Sie hatte sich in der Nähe von Groß zusammengerollt und den Schwanz um sich gewickelt. In den Monaten bei der Sippe von Größter war Rechts gewachsen; dennoch würde sie immer klein bleiben und Züge des Kümmerlings aufweisen, der von seinem nun toten Zwilling herumgestoßen worden war. Ihr Winterfell glänzte noch immer seidig und war weder verfilzt noch schmutzig. Der Schwanz war prall mit Fett gefüllt, das sie über den Winter bringen würde.
Noth verspürte eine Art Zufriedenheit. Angesichts der schlechten Ausgangsvoraussetzungen im Sommer hatten die beiden sich als wahre Überlebenskünstler erwiesen. Für Noth, der selbst keinen Nachwuchs hatte, war Rechts seine einzige Verwandte – seine ganze genetische Zukunft hing von ihr ab. Doch fürs erste vermochte er nicht mehr für sie zu tun.
In der Dunkelheit, eingetaucht in die Gerüche und charakteristischen Geräusche seiner Art, schmiegte Noth sich eng an seine Schwester. Er schloss die Augen und war bald eingeschlafen.
Kurz träumte er: von Splittern aus Sommerlicht, von langen Schatten, davon, wie seine Mutter vom Baum gefallen war. Und als sein Körper sich dann abschaltete, löste das Bewusstsein sich auf.
IV
Die fast horizontalen Sonnenstrahlen bohrten sich wie Suchscheinwerfer in den Wald. Über den langsam auftauenden Gewässern hing ein kühler Nebel. Er leuchtete in präzisen rosig-grauen Wirbeln, eine Schönheit, die von niemandem gewürdigt wurde. Von den kahlen Baumstämmen erstreckten sich lange Schatten nach Norden. Doch schon knospten die ersten Blätter an den kahlen Ästen. Kleine grüne Scheiben hingen fast senkrecht, um das Sonnenlicht einzufangen. Die Blätter waren bereits bei der Arbeit: Die Frühlings- und Sommertage waren so kurz, dass diese robusten pflanzlichen Diener jeden Lichtstrahl auffangen mussten, dessen sie habhaft wurden.
Es war nur ein Streiflicht, eine Dämmerung, die nicht länger als ein paar Minuten währte. Aber es war seit ein paar Monaten das erste Mal, dass die Sonnenscheibe sich wieder gezeigt hatte.
Der Wald war still. Die großen Pflanzenfresser-Herden befanden sich noch hunderte Kilometer im Süden; es würde noch Wochen dauern, bis sie die Sommerweiden erreichten, und die Vögel ließen auch noch auf sich warten. Noth war aber schon wach und trieb sich wieder draußen herum.
Nach dem Winterschlaf war er abgemagert, und der Schwanz war schlapp und hatte das ganze Fett verloren. Das zerzauste und von Urin gelb befleckte Fell hing wie eine von der Sonne angestrahlte Wolke um ihn und ließ ihn doppelt so groß erscheinen, wie er eigentlich war. Weil das Nahrungsangebot der Bäume noch immer dürftig war, musste er über den mit pflanzlichen Abfällen übersäten eiskalten Boden laufen. Nach der Winterkälte hatte es den Anschein, als ob hier niemand jemals gelebt hätte, und überall markierte er Steine und Baumstämme mit seinem Duft.