Um ihn herum waren die Männchen auf Futtersuche, wobei eine große Konkurrenz zwischen ihnen herrschte. Sie waren nun alle erwachsen: Sogar diejenigen, die vor kaum einem Jahr geboren worden waren, hatten fast ihre volle Größe erreicht, während ›Veteranen‹ wie der Kaiser selbst, dessen dritter Geburtstag nahte, sich steifer als im vergangenen Jahr bewegten. Nach dem auszehrenden Winterschlaf machten alle einen kränklichen Eindruck, und die anhaltende Kälte fraß sich durch das lose Fell in die abgemagerten Körper.
Es war aber riskant, so früh sich schon zu bewegen. In den Höhlen schliefen noch immer die Weibchen und brauchten die letzten Wintervorräte auf. Die Räuber waren auch schon aktiv, und wegen des Futtermangels waren ›Frühaufsteher‹-Primaten ein lohnendes Ziel. Wenn eins der Männchen auf ein unerwartetes Futterdepot stieß, wurde er schnell von schnappenden Rivalen umzingelt, und der leere Wald hallte wider von ihrem Kreischen und Kläffen.
Noth hatte aber keine andere Wahl, als sich der Kälte auszusetzen. Es nahte nämlich die Paarungszeit, eine Zeit harter Auseinandersetzungen zwischen den Männchen. Noths Körper wusste, je eher er für die bevorstehenden Kämpfe Kraft tankte und Energie speicherte, desto bessere Chancen hatte er, eine Partnerin zu finden. Er musste das Risiko eingehen.
Noth machte sich auf den Weg zum größten der nahe gelegenen Seen, wobei er sich anhand der verschwommenen Erinnerungen orientierte.
Der See war noch weitgehend zugefroren. Die graue Eisdecke war mit losem, hartkörnigem Schnee bedeckt. Ein Paar entenartiger Vögel, frühe Einwanderer, watschelten über den See und pickten hoffnungsvoll auf der Oberfläche herum. Unter dem Grau sah Noth das kühle Blau älteren Eises – eine Linse tiefgekühlten Materials, das schon im letzten Sommer nicht geschmolzen war und auch in diesem Jahr nicht schmelzen würde.
Er kam an einem grau-weißen Bündel vorbei, das dicht an der Wasserlinie lag. Es war ein Mesonychid. Wie der Polarfuchs späterer Zeiten überwinterte er auf dem Boden. Jedoch hatte dieser Meso im Winter bei einem Kälteeinbruch sich in einem Schneesturm verirrt und war hier am Seeufer erfroren. Der Körper war schnell gefroren und schien sich perfekt erhalten zu haben. Doch wo er nun auftaute, machten die Bakterien und Insekten sich ans Werk: Noth stieg ein süßlicher Verwesungsgeruch in die Nase. Das halbgefrorene Fleisch würde ihm munden, und die salzigen Maden wären ein Leckerbissen. Aber der Durst war stärker als der Hunger.
Nahe dem flachen schlammigen Seeufer war das Eis dünn und rissig, und Noth roch offenes Wasser. Das grünliche Wasser wimmelte von Leben und war mit grauen Brocken der alten Eisdecke bedeckt. Noth tunkte die Schnauze ins Wasser und trank. Dadurch löste sich auch der größte Teil des zähen Schleims zwischen den Zähnen.
Er sah, dass Zusammenballungen durchsichtiger grauer Kügelchen im Wasser schwammen – der Laich der amphibischen Seebewohner, den sie so früh wie möglich abgelegt hatten. Und in der Nähe, in den Untiefen zu seinen Füßen, machte Noth winzige zuckende Wesen aus: die ersten Kaulquappen. Er fuhr mit der Hand durchs Wasser, schöpfte den Schleim ab und stopfte sich die glibbrige Masse in den Mund.
Dann wurde die Darmtätigkeit aktiviert, und wässriger Kot sammelte sich unter ihm.
Und dann brach das Eis mit einem lauten Knacken auf, und etwas kam an die Wasseroberfläche. Etwas Großes kam aus dem See. Mit großen Augen huschte Noth in die Deckung der nächsten Bäume.
Wie Noth war auch das Krokodil früh erwacht und von der Helligkeit des Tags aus dem Schlaf gerissen worden. Als es aus dem See kam, rutschten ihm Eisbrocken vom Rücken. Mit einer geschmeidigen Bewegung schnappte es den gefrorenen Meso. Eis splitterte, und Knochen knackten. Dann glitt das Kroko rückwärts ins Wasser und zog den Kadaver mühelos und fast geräuschlos mit.
Das Krokodil war hungrig.
Vor dem Kometen waren die größten Tiere in allen Ökologien der Erde Reptilien gewesen: die Plesiosaurier und Ichthyosaurier in den Meeren, die Dinosaurier an Land und die Krokodile im Süßwasser. Die Katastrophe hatte diese Familien ausgelöscht, und in ihren leeren Reichen sollten sie bald durch funktional gleichwertige Säugetiere ersetzt werden – alle außer den Krokodilen.
Die Lebensbedingungen in der Süßwasser-Umgebung waren schon immer schwierig gewesen. Während die Versorgung mit pflanzlichem Material an Land und im Meer räumlich und zeitlich geregelt war, waren Süßwasser-Umgebungen sehr variabel. Erosion, Abrasion, Verlandung, Überschwemmungen, Dürre und starke Schwankungen der Wasserqualität waren die Risiken.
Aber das Krokodil – und andere robuste Süßwasser-Arten wie Schildkröten – waren widerstandsfähig. Manche lernten, auf der Suche nach Wasser über Land zu gehen. Andere wichen ins Meer aus. Oder sie gruben sich metertief in den Schlick ein und warteten auf den nächsten Wolkenbruch. Und was die Nahrung betraf, lebten sie selbst während der größten Auslöschungen an Land und im Meer von den Nährstoffen, die von den Kadavern, mit denen das Land übersät war, in einem steten Strom in den Untergrund einsickerten.
Auf diese Art hatten die Krokodile über hundertfünfzig Millionen Jahre überlebt – Kometen- und Meteoriten-Einschläge, plötzliche Vergletscherungen, Änderungen des Meeresspiegels, tektonische Auffaltungen und Konkurrenz von aufeinander folgenden Tierreichen.
Und nach dieser ganzen Zeit hatten sie immer noch die Fähigkeit zu evolutionären Neuerungen. Die erste Zeit nach dem Kometeneinschlag waren die dominierenden Räuber an den Wasserläufen Verwandte der Krokodile mit langen Beinen und hufartigen Klauen gewesen. Sie waren ein Albtraum gewesen, schnelle Krokodile, die imstande gewesen waren, Tiere bis zur Größe kleiner Pferde zu jagen. Die Krokodile hatten sich sogar an die Lebensbedingungen hier am Pol angepasst, wo die Sonne monatelang nicht schien; sie verschliefen den Winter einfach.
Im Gegensatz zu den Dinosauriern und den Plesiosauriern wurden die Krokodile nicht von aufstrebenden Säugetieren aus ihren Süßwasser-Nischen vertrieben: weder jetzt noch in Zukunft.
Noth hatte den Meso-Kadaver verloren, aber die Stelle, wo er gelegen hatte, war mit Fleischfetzen und zerdrückten Maden bedeckt. Hungrig leckte er über den gefrorenen Boden.
Schließlich kam der Tag der Paarung.
Die Weibchen der Sippe versammelten sich in den Ästen einer großen Konifere. Sie aßen erste Früchte und führten dem Körper die Nährstoffe zu, die sie brauchten, um den Anstrengungen der Mutterschaft gewachsen zu sein. Die Weibchen wurden unauffällig von den Älteren angeleitet, darunter auch Groß und Größte. Rechts war ebenfalls bei ihnen. Sie hatte ihren ersten Winter überlebt. Sie nahm schnell an Gewicht zu, und als sie das zottige Winterfell abgeschüttelt hatte, entpuppte sie sich als eine kleine, aber gut gebaute Erwachsene, die zur Paarung bereit war.
Der Kaiser weilte in seinem Harem. Tapfer humpelnd ging er von einer zur andern, um sie zu besteigen. Größte hatte ihn schon zweimal rangelassen, und Rechts hatte er auch schon entjungfert, ohne dass sie sich ihm widersetzt hätte. Nun nahm er Groß. Sie hatte sich an einen tiefen Ast geklammert und vornüber gebeugt. Den Kopf hatte sie zwischen die Knie und den Schwanz in die Höhe gestreckt. Der Kaiser war hinter ihr. Er hatte ihr die Arme um die Taille geschlungen und stieß sie mit einem Tempo, aus dem Erschöpfung und Dringlichkeit sprachen.
Dies war der Tag, auf den der Kaiser das ganze Jahr hingearbeitet hatte; und nun war die Zeit gekommen, da er seine ganze Autorität und Energie in die Waagschale warf, um so viele Weibchen wie möglich zu decken.