Deshalb war Streuner froh, dem ganzen Hickhack für eine Weile zu entrinnen.
Nachdem der Käfer gründlich zerkaut war, untersuchte Streuner die Palmnuss. Sie wusste, dass der Kern eine Delikatesse war, aber ihre Hände und Zähne waren zu schwach, um die Schale aufzubrechen. Also schlug sie die Schale gegen den Ast.
Dann wurde sie sich zweier heller Augen bewusst, die sie beobachteten. Sie gehörten einer schlanken rostroten Gestalt, die sich an einen Ast klammerte. Sie machte sich aber keine Sorgen. Das Männchen gehörte zu einem Primatentyp, der eng mit Streuners Art verwandt war. Er war jedoch kleiner, schlanker – und nicht annähernd so intelligent. Hinter ihm machte Streuner noch mehr Exemplare dieser Art aus, die sich an die Äste dieses und des nächsten Baums geklammert hatten und wie eine Kette sich durch die grün illuminierte Welt des Waldes zogen. Der Fremde wollte Streuner die Nuss nicht streitig machen und stellte schon gar keine Bedrohung für sie dar; der kleine Primat hatte es nur auf Streuners Reste abgesehen.
Streuner ernährte sich hauptsächlich von Früchten. Doch die Rostroten fraßen – wie ihre Adapiden-Vorfahren – vorwiegend Raupen und Insekten, die sie von den Ästen klaubten, und sie hatten spitze kleine Zähne, um die erbeuteten Insekten zu zerkleinern. Sie lebten in dichten mobilen Kolonien mit fünfzig und mehr Tieren. Dies bot ihnen Schutz gegen Räuber und andere Primaten: Selbst eine Rotte Anthros hätte Schwierigkeiten gehabt, sich einer dieser flinken, koordinierten Horden zu erwehren.
Streuner war jedoch viel intelligenter als jeder von diesen Roten.
Es würde noch ein paar Dutzend Jahrmillionen dauern, bis ein Primat etwas benutzte, das man als Werkzeug im eigentlichen Sinn zu bezeichnen vermochte. Streuners Intelligenz war weitgehend spezialisiert und dahingehend ausgeprägt, dass sie die Wechselfälle ihres Soziallebens zu bewältigen vermochte. Dennoch war Streuner intelligent genug, um die nähere Umwelt zu begreifen und sie so zu manipulieren, dass sie bekam, was sie wollte. Eine Nuss gegen einen Baum zu schlagen war kaum fortgeschrittene Technik, aber sie war trotzdem gefordert, ein paar Schritte voraus zu denken – der Ansatz eines viel größeren Einfallsreichtums, der erst nach langer Zeit zum Tragen kommen sollte. Und dieses Nussknacken war ein kognitiver Sprung, durch den die Roten ins Hintertreffen geraten waren. Was auch der Grund dafür war, dass sie sich hier versammelt hatten.
Streuner hörte ein Rascheln tief unter sich. Sie hielt sich am Ast fest und lugte ins grüne Zwielicht.
Sie sah die Pflanzenreste auf dem Waldboden und eine schemenhafte Gestalt, die mit raschelnden Federn und am Boden pickend zwischen den Bäumen hindurch lief. Es war ein flügelloser Vogel in der Art eines Kasuars. Und als sie den Weg zurückverfolgte, den der Vogel bis zur Mitte der Lichtung genommen hatte, erkannte Streuner etwas matt glänzendes Rundes.
Eier. Es waren zehn Stück, die im nachlässig gebauten Vogelnest lagen. Ihr Eidotter war so groß wie Streuners Kopf. In der Mittagsruhe und in Abwesenheit des Gefährten hatte der Vogel das Nest kurz unbeaufsichtigt gelassen und darauf gehofft, dass es unversehrt bliebe, während er seinen Hunger stillte. Er hatte aber das Pech, dass Streuners scharfe Augen das Nest so schnell entdeckten.
Streuner zögerte für einen Moment. Wenn sie das Gelege plünderte, ging sie ein Risiko ein. Durch das Nussknacken hatte sie schon so viel Zeit verloren, dass sie den Anschluss an die Horde zu verlieren drohte, und es wäre schlecht für sie, auf sich allein gestellt zu sein. Zumal der Vogel auch eine Bedrohung darstellte. Das staksende Ungeheuer war einer der letzten Vertreter einer zwanzig Millionen Jahre alten Dynastie. Nach dem Kometen waren die Landsäugetiere zunächst klein geblieben und hatten sich in den dichten Wäldern bedeckt gehalten. Manche Vögel waren jedoch richtig groß geworden, und flügellose Ungeheuer wie dieses hatten die Rolle des ›Räuberhauptmanns‹ angestrebt. Ohne die durch den Flug auferlegten Gewichtsbeschränkungen hatten sie einen schweren, muskulösen Körperbau und enorme Kräfte entwickelt und Schnäbel, die eine Wirbelsäule zu brechen vermochten. Aber sie waren zu spät gekommen: Je größer die Säugetier-Pflanzenfresser wurden, desto größer wurden auch die Säugetier-Fleischfresser, und mit denen vermochten die Vögel nicht zu konkurrieren.
Die Eier waren da, direkt unter Streuner. Sie brauchte nur zuzugreifen.
Wenn sie älter gewesen wäre und besser in die Gruppe integriert, hätte sie vielleicht eine andere Entscheidung getroffen. Doch nun kletterte sie an der rauen Baumrinde hinab auf den Boden, wobei ihr schon das Wasser im Mund zusammenlief. Es war diese eine Entscheidung, die die Weichen für ihr ganzes Leben stellte – und für das weitere Schicksal der großen Primaten-Familie.
Sie hatte die Reste des Nusskerns fallenlassen. Hinter ihr verlor der kleine Rote die Geduld und machte sich über die süßen Brocken her. Doch schon im nächsten Moment schwärmten seine Artgenossen über den Ast aus und raubten ihm die Beute.
Während sie den Baum hinabkletterte, scheuchte Streuner eine Schar Brüllaffen auf. Diese Primaten waren sehr klein und hatten Mähnen aus feinem, seidigem Haar und bizarre weiße Schnurrbärte. Sie wurden aufgeschreckt und verschwanden kreischend im dichten Laub – sie wirkten fast vogelartig mit den schnellen Bewegungen und dem dünnen hellen Fell.
Brüllaffen ernährten sich vom Harz der Bäume. Sie gewannen es, indem sie die unteren Zähne in die Baumrinde schlugen. Wenn sie sich satt gegessen hatten, urinierten sie in das ausgebissene Loch, um anderen den Appetit zu verderben. Es gab viele Arten dieser kleinen Geschöpfe, die sich jeweils auf das Harz eines bestimmten Baums spezialisiert hatten und sich durch ihre Haartracht unterschieden. Mit dem extravaganten Fell und den trillernden Rufen erfüllten sie die Baumwipfel mit Farbe, Leben und Lärm.
Auf dem Boden gab es noch eine weitere Primatenart. Es handelte sich um einen Dickbauch, ein einzelnes Männchen.
Es war viermal so groß wie Streuner, und der massige Leib war in ein dichtes schwarzes Fell gehüllt. Er saß reglos da, zupfte unablässig Blätter von einem Busch und steckte sie sich in sein großes Maul. Die Schnauze war rußgeschwärzt: Er hatte Holzkohle von einem vom Blitz gefällten Baum gefressen, die die Giftstoffe in seiner pflanzlichen Nahrung neutralisierte.
Als Streuner auf den Boden hinuntersprang, schaute er sie finster an, zog die Mundwinkel herunter und stieß ein Brüllen aus. Sie ließ nervös den Blick schweifen, in der Furcht, dass sein Gebrüll vielleicht die Aufmerksamkeit der sorglosen Vogelmutter auf sich gezogen hätte.
Streuner hatte vom Dickbauch nichts zu befürchten. Er hatte einen großen Magen mit einem Dünndarm, in dem die nährstoffarme Nahrung teilweise fermentiert wurde. Und damit die große organische Fabrik auch effektiv arbeitete, musste er Dreiviertel der Zeit reglos verharren. Streuner hörte das Rumoren des großen Magens. Das Geschöpf war aber erstaunlich sauber; angesichts seines Lebensstils hätte es so reinlich sein müssen wie eine Kanalratte. Als sie sich von seinem Revier entfernte, fiel der Dickbauch in ein verdrießliches Schweigen.
Die Waldlichtung war dicht bewachsen. Grasland war aber noch selten. In Ermangelung von Gras war der Bodenbewuchs nirgends höher als einen Meter und bestand aus kleinen Sträuchern und Büschen wie Aloe, Kakteen und Fettpflanzen. Am spektakulärsten waren große distelartige Pflanzen, die gerade Blütezeit hatten und psychedelisch gefärbte Blüten austrieben. Solche botanischen Wunder zierten die Landmassen dieses Erdzeitalters, aber es war ein Ensemble, das in menschlichen Zeiten ungewöhnlich war; es hatte Ähnlichkeit mit der Fynbos-Pflanzenwelt in Südafrika.
Um das Vogelnest zu erreichen, würde Streuner die Deckung der Bäume verlassen müssen. Und der offene Himmel wirkte sehr hell – hell und ausgewaschen –, und es lag ein eigenartiger Ozongeruch in der Luft. Sie hielt unbehaglich inne.