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Sie hielt sich am Waldrand und versuchte sich an die Eier heranzupirschen.

Dabei durchquerte sie einen sumpfigen Abschnitt, einen Teil der Flutebene des mächtigen Stroms. Sie sah das Wasser: Es war mit vermoderter Vegetation übersät und schimmerte unter der hochstehenden Sonne. Hier, nicht weit vom Flussdelta entfernt, war sie in der Nähe des Meers. Gelegentliche Überschwemmungen und Hochwasser hatten den Boden mit Salz gesättigt, sodass dort kaum noch etwas wuchs.

Tiere bewegten sich über die Lichtung und strebten dem offenen Wasser entgegen. Im Unterholz äste eine Gruppe gazellenartiger Stenomylus. Die unruhigen Tiere hatten sich zusammengedrängt und ließen beim Fressen furchtsam den Blick schweifen.

Sie wurden von einer Cainotherium-Schar gefolgt, die kleinen langohrigen Antilopen glichen. Es streiften noch weitere hirschartige Tiere durch den Wald. Der Stenomylus war jedoch keine Gazelle, sondern eine Abart des Kamels – wie auch das Cainotherium mit dem seltsamen kaninchenartigen Kopf.

In der Nähe des Ufers hatte sich eine Familie großer Pflanzenfresser versammelt, die an Nashörner erinnerten. Nur dass es keine Rhinozerosse waren, und der traurige Abschwung der Oberlippen gab auch einen Hinweis auf ihre Abstammung: In Wirklichkeit waren sie Arsinoetheria, also Verwandte der Elefanten. Im Wasser selbst aalten sich zwei sich paarende Metamynodons, die Nilpferden sehr ähnlich waren. Watvögel wichen dem Liebesspiel vorsichtig aus. Die Metamynodons waren jedoch enger mit Nashörnern verwandt als die Arsinoetheria.

Wo Pflanzenfresser sich versammelten, waren auch Räuber und Aasfresser nicht weit. Sie taxierten sie, wie es ihre Art war. Den merkwürdigen Proto-Rhinozerossen und Kamel-Gazellen folgten in gebührendem Abstand Bärenhund-Rudel – Amphicyons, Räuber und Aasfresser zugleich, die wie Bären auf platten Füßen umherliefen.

So war das damals. Ein menschlicher Beobachter hätte sich im Fiebertraum gewähnt. Ein Bär wie ein Hund, ein Kamel wie eine Antilope – Gestalten, die in den Grundzügen vertraut waren und im Detail wie Vexierbilder anmuteten. Die großen Säugetier-Familien mussten erst noch den Platz finden, den sie später einmal einnehmen würden.

Und es gab auch in diesem Zeitalter einen ›Champion‹. Am Waldrand sah Streuner eine schemenhafte Bewegung zwischen den Bäumen, die von einem riesigen, trägen und bedrohlichen Wesen ausging. Das war ein Magistatherium, das an einen Bären erinnerte. Sogar auf allen vieren war es noch doppelt so groß wie ein aufgerichteter Kodiakbär. Die Reißzähne waren an der Wurzel fünf Zentimeter dick und doppelt so lang wie die eines Tyrannosaurus. Und wie der Tyrannosaurus jagte es aus dem Hinterhalt. Es war das größte Fleisch fressende Säugetier, das je an Land gelebt hatte, und es beherrschte die Wälder Afrikas. Aber die Schneidezähne, wichtige Werkzeuge eines Fleischfressers, waren im Gegensatz zu den Fleischfressern der Zukunft paarweise angeordnet. Deshalb bestand die Gefahr, dass sie ausgeschlagen wurden oder abbrachen. Dieser geringfügige ›Konstruktionsfehler‹ sollte schließlich zum Aussterben des Magistatheriums führen.

Derweil kreuzte der gezackte Rücken eines Krokodils im größten Teich. Ihm war diese Fremdartigkeit gleichgültig. Solang jemand dumm genug war, sich dem Reich des Krokodils zu nähern und solang dieser Jemand Fleisch hatte, das den Magen füllte und Knochen, die im Maul knirschten, hätte er auch als der fünfbeinige Grawunkel daherkommen können – sein Schicksal wäre von vornherein besiegelt.

Schließlich war Streuner nah genug am Nest. Sie brach aus der Deckung, wobei sie leere Blicke der grasenden Pflanzenfresser auf sich zog und machte sich über die Eier her.

Das Nest war teilweise mit herabgefallenen Farnwedeln bedeckt, sodass sie in deren Schutz ans Werk zu gehen vermochte. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, und sie hob das erste Ei auf – und stutzte. Mit den Händen strich sie über die glatte Eierschale, ohne einen Ansatzpunkt zum Aufreißen oder Aufbrechen zu finden. Sie drückte das Ei an die Brust, was genauso wenig zum Erfolg führte; die Schale war einfach zu dick. Es war auch kein Ast in der Nähe, an dem sie das Ei aufzuschlagen vermocht hätte. Nun versuchte sie, sich das ganze Ei in den Mund zu stecken und es mit den kräftigen Mahlzähnen zu knacken, aber das Ei passte nur zum Teil in den kleinen Mund.

Das Problem war, dass ihre Mutter immer die Eier für sie aufgeschlagen hatte. Ohne die Mutter war sie jedoch aufgeschmissen.

Das Licht am Himmel schien heller zu werden, und es kam ein Wind auf, der die Oberfläche der Teiche kräuselte und braune Blätter über den Boden wehte. Sie verspürte einen Anflug von Panik; sie hatte sich weit von ihrer Sippe entfernt. Sie ließ das Ei wieder ins Nest fallen und griff nach einem anderen.

Plötzlich stieg ihr der süßliche Geruch von Dotter in die Nase. Das Ei, das sie hatte fallenlassen, war auf die anderen gefallen und dabei zerbrochen. Sie stieß die Hände in die Trümmer und steckte das Gesicht in den süßen gelben Glibber. Bald kaute sie auf winzigen Knochen herum. Als sie jedoch ein weiteres Ei nahm, vermochte sie sich nicht mehr daran zu erinnern, wie sie das erste geöffnet hatte. Der ganze Versuch-und-Irrtum-Prozess ging von vorne los. Sie befingerte das Ei und versuchte hineinzubeißen.

Die Eier aufeinander fallen lassen – so hatte ihre Mutter sie geöffnet. Doch selbst wenn ihre Mutter hier gewesen wäre und ihr gezeigt hätte, wie sie es anstellen musste, hätte Streuner die Technik nicht erlernt. Streuner war nämlich nicht in der Lage, die Absichten anderer zu erkennen und vermochte auch keine Handlungen nachzuahmen. Psychologie hatte für die Anthros keine Geltung; jede Generation musste anhand elementarer Rohmaterialien und Situationen alles von Grund auf neu erlernen. Das hatte einen langsamen Lernfortschritt zur Folge. Trotzdem kam Streuner bald zu einem zweiten Ei.

Sie war so sehr mit dem Essen beschäftigt, dass sie die Augen nicht bemerkte, die sie begierig musterten.

Bevor sie ein drittes Ei aufschlug, setzte der Regen ein. Er schien aus heiterem Himmel zu kommen – große Tropfen fielen aus einem wolkenlosen, sonnigen Himmel.

Ein starker Wind fegte über die Marschen. Watvögel schwangen sich in den Himmel und flohen vorm aufziehenden Unwetter gen Westen zum Meer. Die großen Pflanzenfresser schauten in stoischer Ruhe zum Himmel empor. Das Krokodil tauchte ab und wartete in den Tiefen seines trüben Reichs darauf, dass der Sturm sich wieder legte.

Und nun verdüsterten Wolken die Sonne, und Dunkelheit senkte sich wie ein Deckel herab. Im Osten, wo der Sturm sich zusammenbraute, ertönte Donnerhall. Es war ein Unwetter von einer Heftigkeit, wie es das Land nur ein paar Mal in einem Jahrzehnt heimsuchte.

Streuner kauerte sich in dem verwüsteten Nest zusammen. Das Fell klebte ihr schon am Körper. Die Regentropfen schlugen rings um sie in den Boden ein, prasselten auf die tote Vegetation und schlugen winzige Krater in den Lehm. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie hatte die Stürme immer in der relativen Sicherheit der Bäume abgeritten, deren Laub das herabstürzende Wasser streute und dämpfte. Doch nun war sie dem Unwetter schutzlos ausgesetzt und wurde sich mit einem Mal bewusst, wie weit sie sich von der Sippe entfernt hatte. Wenn sie in diesem Moment von einem Räuber entdeckt worden wäre, hätte sie das vielleicht das Leben gekostet.

Aber wie der Zufall es wollte, wurde sie von einem Artgenossen entdeckt: von einem Anthro, einem großen Männchen. Es fiel vor ihr auf den aufgeweichten Boden und musterte sie reglos.

Sie wimmerte erschrocken und näherte sich ihm vorsichtig. Vielleicht war es eins von den Männchen, die ihre Sippe dominierten – die lockere, zerfallende Horde, die sie als eine Art multipler Vater betrachtete. Aber das war er nicht, wie sie schnell feststellte. Das Gesicht, in dem das vom Regen durchnässte Fell klebte, war fremdartig, und das schwarze Bauchfell war mit einem eigenartigen Muster aus weißen Tropfen gezeichnet, die beinahe wie Blut aussahen.