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Dieses Männchen – Weißblut – war doppelt so groß wie sie und ein Fremder. Und Fremde verhießen nie etwas Gutes. Sie wich kreischend zurück.

Aber sie hatte zu spät reagiert. Er streckte die Hand aus und packte sie am Schlafittchen. Sie wehrte sich zappelnd, aber er hob sie mit einer solchen Leichtigkeit hoch, als ob sie eine Frucht wäre.

Dann schleppte er sie zurück in den Wald.

Dass Weißblut Streuner – ein jugendliches Weibchen, das noch dazu allein unterwegs war – entdeckt hatte, war ein ausgesprochener Glückstreffer für ihn gewesen. Er war ihr unauffällig gefolgt, wobei der Früchteesser sich wie ein routinierter Jäger bewegt hatte.

Und nun hatte der heftige Sturm ihm die Gelegenheit zum Zugriff geboten. Weißblut hatte nämlich selbst Probleme, und er glaubte, dass Streuner vielleicht ein Teil der Lösung wäre.

Wie ihre Vorfahren, die Notharctus, lebten Anthro-Weibchen in Gruppen, deren Mitglieder sich gegenseitig unterstützten. Doch in diesem schlaraffenlandähnlichen Tropenwald ohne Jahreszeiten bestand keine Notwendigkeit, die Paarungszyklen zu synchronisieren. Das Leben war viel flexibler, wenn verschiedene Weibchen zu verschiedenen Zeiten einen Eisprung hatten.

Das ermöglichte es auch einer kleinen Gruppe Männchen, manchmal sogar einem einzelnen Männchen, einen Anspruch auf eine ganze Schar von Weibchen zu erheben. Im Gegensatz zum Notharctus-Kaiser musste ein Anthro-Männchen nämlich nicht versuchen, alle Weibchen innerhalb von achtundvierzig Stunden zu decken oder sich der schier unlösbaren Aufgabe zu stellen, andere Männchen abzuwehren. Stattdessen genügte es, wenn er Rivalen von der kleinen Anzahl Weibchen fernhielt, die zu einer bestimmten Zeit fruchtbar waren.

Trotz der überlegenen Körpergröße ›besaßen‹ die Anthro-Männchen weder die Weibchen noch dominierten sie sie übermäßig. Aber die Männchen, die durch eine genetische Loyalität an die Gruppen der Weibchen gebunden waren – in einer promiskuitiven Gruppe bestand immer die Möglichkeit, dass ein Neugeborenes von einem selbst war –, waren bestrebt, die Gruppe vor Außenseitern und Räubern zu schützen. Und die Weibchen für ihren Teil waren ganz zufrieden mit den lockeren männlichen Gemeinschaften, die sie wie Satelliten umkreisten. Die Männchen waren gelegentlich nützlich, offensichtlich notwendig und selten einmal lästig.

Doch seit einiger Zeit liefen die Dinge in Weißbluts Gruppe aus dem Ruder.

Zehn der dreiundzwanzig Weibchen der Sippe hatten zur gleichen Zeit einen Eisprung gehabt. Alsbald waren andere Männchen vom Geruch von Blut und Pheromonen angelockt worden. Und plötzlich gab es nicht mehr genug Weibchen für jeden. Die Lage war instabil geworden, und es hatte sich eine starke Konkurrenzsituation ergeben. Es bestand die Gefahr, dass die Gruppe ganz auseinanderbrach.

Also hatte Weißblut sich auf die Jagd nach Weibchen begeben. Halbwüchsige waren am begehrtesten: Sie waren noch so jung und klein, dass man sie leicht zu fangen vermochte und so dumm, sich von ihrer Sippe abzusondern. Natürlich bedeutete das auch, dass man noch ein Jahr oder länger warten musste, bevor man sich mit einem Kind wie Streuner zu paaren vermochte. Weißblut war aber bereit, zu warten: Sein Bewusstsein war schon so komplex, um heute zu handeln mit der Aussicht auf eine spätere Belohnung.

Für Weißblut war es eine ganz logische Situation. Doch für Streuner war es ein Albtraum.

Plötzlich schwangen sie sich rasant von Baum zu Baum und rannten über Äste. Weißblut hielt sie am Nackenfell fest. Ihr Gewicht schien ihn kaum zu bremsen. Streuner hatte noch nie so große Sprünge und weite Sätze gemacht: Ihre Mutter und die anderen Weibchen, die ohnehin sesshafter waren als die Männchen, hatten sich viel vorsichtiger bewegt. Und sie wurde über eine große Entfernung transportiert; sie roch lehmiges Wasser, als sie sich dem Flussufer näherten.

Und derweil prasselte der Regen hernieder, schoss durch die Blätter und verwandelte die Luft in einen trüben grauen Dunst. Ihr Fell war klitschnass, und Wasser rann ihr in die Augen und nahm ihr die Sicht. Tief unter ihnen floss Wasser über den aufgeweichten Boden – Rinnsale vereinigten sich zu Bächen, die rotbraunen Schlamm in den ohnehin schon angeschwollenen Fluss eintrugen. Es war, als ob Wald und Fluss miteinander verschmolzen und durch die Wucht des Sturms eins würden.

Ihre Panik verstärkte sich, und sie versuchte sich aus Weißbluts Griff zu befreien. Dabei handelte sie sich aber nur so harte Schläge auf den Hinterkopf ein, dass sie quiekte.

Schließlich erreichten sie Weißbluts Territorium. Der Großteil der Sippe, Männchen, Weibchen und Junge hatten sich auf einem einzigen Baum versammelt, einem niedrigen ausladenden Mango. Sie saßen wie Häufchen nassen Elends nebeneinander auf den Ästen. Als die Männchen aber sahen, was Weißblut da angebracht hatte, stießen sie Rufe aus und schlugen auf die Äste.

Weißblut warf Streuner achtlos in eine Gruppe Weibchen. Ein Weibchen betatschte Streuners Gesicht, Bauch und Genitalien. Streuner schlug ihre Hand weg und kreischte empört. Doch das Weibchen ließ sich davon nicht abhalten, und nun scharten sich noch weitere um sie und wollten die Neue in Augenschein nehmen. Diese Neugier war eine Mischung aus der üblichen Faszination der Anthros für alles Neue und eine Art Rivalität gegenüber diesem potenziellen Konkurrenten, einem neuen Rekruten in den ständig wechselnden Hierarchien.

Streuner war total verwirrt: durch die Blitze, die durch den purpurnen Himmel zuckten, den Regen, der ihr ins Gesicht prasselte, das Tosen des Wassers unter ihr, das durchnässte Fell und den ungewohnten Gestank der Weibchen und Jungen um sie herum. Die offenen rosigen Münder und tastenden Finger, die sie bedrängten, gaben ihr den Rest. Sie unternahm einen Fluchtversuch, machte einen Satz und baumelte kurz über dem Ast.

Und sie erblickte etwas Fremdartiges.

Zwei Indricotheria standen unter dem Baum. Diese großen Kreaturen mit der dreifachen Masse eines ausgewachsenen Elefanten waren eine Art ungehörntes Rhinozeros. Sie hatten lange, giraffenartige Beine und Hälse und eine elefantenartige Haut. Sie waren von einer gravitätischen Anmut und hatten wegen ihrer Größe keine natürlichen Feinde. Nun hoben sie die pferdeartigen Gesichter auf den dicken Hälsen und fraßen die nassen Blätter vom Baum ab.

Aber sie waren dennoch in Gefahr. Schlammiges Wasser strömte über den Erdboden und umspülte die Beine der Indricotheria, als ob der Baum und die Tiere selbst in einem Fluss stünden.

Schließlich brach in unmittelbarer Nähe der flachen Baumwurzeln eine lehmige Erdschicht vom Flussufer ab und glitt ins Wasser. Ein mächtiges Indricotherium trompetete und scharrte mit den elefantenartigen Füßen auf einem Boden, der sich plötzlich in einen rutschigen, tückischen Abhang verwandelt hatte – und dann ging es mit verdrehtem Hals und peitschendem Schwanz abwärts. Fünfzehn Tonnen Fleisch flogen durch die Luft. Es fiel mit einem lauten Platschen ins Wasser und war im nächsten Moment verschwunden, mitgerissen vom alles verschlingenden Fluss.

Das zweite Indricotherium stieß ein trauriges Trompeten aus. Es war selbst in Bedrängnis, denn der Boden löste sich schon unter dem anbrandenden Wasser auf, und das Tier brachte sich stolpernd in Sicherheit.

Und dann geriet der Baum selbst in Gefahr. Die Wurzeln waren durch die plötzliche Überschwemmung freigelegt worden und hatten durch die Wucht, mit der der Fluss gegen das Ufer anbrandete, weiter an Halt verloren. Der Baum knarrte und erzitterte.

Und dann gaben die Wurzeln mit einem salvenartigen explosiven Krachen nach. Der Baum neigte sich dem Wasser entgegen. Wie Obst von einem geschüttelten Ast fielen Primaten in allen Größen vom Baum und stürzten schreiend ins schäumende Wasser.