Streuner klammerte sich heulend am Ast fest, als der Baum wie in einem Albtraum in den Fluss kippte.
Die ersten Minuten waren die schlimmsten.
In Ufernähe waren die Turbulenzen am stärksten, weil das Wasser zwischen der starken Strömung und der Reibung mit dem Land hin und her gerissen wurde. In diesem mächtigen Strudel war selbst der große Mangobaum nicht mehr als ein Zweig, der in einen Bach geworfen wurde. Er bäumte sich auf, knarrte und verwand sich. Erst fiel das Laub ins Wasser, und dann richteten die Wurzeln, deren Zwischenräume mit Schlamm und Geröll verstopft waren, sich wie eine Klaue gen Himmel. Streuner wurde durch die Luft geschleudert und fiel in schmutzigbraunes Wasser, das ihr in Mund und Nase drang. Dann kam sie wieder an die Wasseroberfläche.
Schließlich löste der Baum sich vom Chaos in der Nähe des Ufers und trieb in die Flussmitte, wo es schnell ruhiger wurde.
Streuner wurde wieder unter Wasser gedrückt. Durch das trübe Wasser schaute sie zu einer schimmernden Oberfläche hinauf, auf der Blätter und Zweige trieben. Mund und Hals füllten sich mit Wasser, und Panik überkam sie. Mit einem erstickten Schrei stieg sie durchs Blättergewirr dem Licht entgegen.
Sie brach durch die Wasseroberfläche. Licht, Lärm und der heftige Regen brandeten gegen ihre Sinne an. Sie zog sich aus dem Wasser und legte sich flach auf einen Ast.
Der Baum trieb mit der Krone voran flussabwärts. Das verrippte Wurzelgeflecht griff nach dem dräuenden, von Blitzen durchzuckten Himmel aus. Streuner hob den Kopf und hielt Ausschau nach den anderen Anthros. Es war nicht leicht, sie in der dunstigen Luft und im strömenden Regen auszumachen, so zerrupft und durchnässt wie sie waren. Aber sie erkannte Weißblut, das kräftige Männchen, das sie entführt hatte, zwei weitere Männchen und ein Weibchen mit einem Jungen, das sich irgendwie an ihrem Rücken festhielt – ein kleines, klitschnasses Fellbündel.
Obwohl sie noch genauso zerschlagen und halb ertrunken war wie zuvor, fühlte Streuner sich plötzlich besser. Wäre sie ganz allein gewesen, hätte sie sehr darunter gelitten; die Anwesenheit der anderen war tröstlich für sie. Dennoch gehörten diese anderen nicht zu ihrer Familie, nicht zu ihrer Sippe.
Es trieb noch mehr Vegetation im Wasser. Sie sammelte sich in der Mitte, wo der Fluss am tiefsten war. Da waren Bäume und Büsche, die zum Teil schon am Oberlauf des Kongo mitgerissen worden waren, tausende Kilometer entfernt in einem ganz anderen Land in der Mitte des Kontinents. Es waren auch Tiere dabei. Ein paar klammerten sich an die Äste wie die Anthros. Sie sah die zappelnden Leiber eines Pärchens der Rostroten und sogar einen Dickbauch, der auf einem Walnuss-Baum hockte. Der Dickbauch, ein Weibchen, hatte es sich gemütlich gemacht und ließ sich auch durch den Regen nicht die Laune verderben. Sie war schon wieder in ihre Gewohnheit verfallen, ständig Laub zu mampfen und brauchte nur noch zuzugreifen.
Aber nicht alle Tiere hatten die Reise in dieser Arche des Schreckens lebend überstanden. Eine ganze Familie dicker, schweineartiger Anthracotheria war ertrunken und steckte wie fleischige Früchte zwischen den Ästen einer zerbrochenen Palme. Und da war auch das Indricotherium, das vor der Entwurzelung des Mangos in den Fluss gestürzt war. Der Kadaver trieb mit wackelndem Hals und gespreizten Beinen im Wasser – auf ein Stück Treibgut reduziert wie die anderen.
Als der Fluss sich verbreiterte, wurde dieses Treibgut von den turbulenten Strömungen zu einer Art Floß aus Baumkronen und Wurzeln zusammen geschoben. Die Tiere starrten sich und den Fluss an, während ihr schwimmender Untersatz immer weiter trieb.
Streuner sah den dichten grünen Wald, der das flache Flussufer aus erodiertem Sandstein säumte. Die Bäume waren Mangobäume, Palmen und eine Art Bananenstauden. Äste hingen tief übers Wasser, und Lianen und Ranken schlängelten sich über die überwucherten Terrassen. Sie hielt Ausschau nach einem Ast, an dem sie sich emporzuschwingen und von hier zu entkommen vermochte. Aber sie war durch den reißenden Fluss vom Wald getrennt, und je länger das Pflanzen-Floß flussabwärts trieb, desto weiter traten diese verlockenden Ufer auseinander, und der vertraute Wald wich schließlich den Mangroven, die die Küstenregion dominierten.
Und der Regen wollte einfach nicht nachlassen. Er wurde sogar noch stärker. Schwere Tropfen fielen vom bleiernen Himmel und schlugen im Wasser Krater, die im Moment ihrer Entstehung auch schon wieder verschwanden. Ein weißes Rauschen dröhnte ihr in den Ohren, sodass sie das Gefühl hatte, in einer riesigen Blase aus Wasser eingeschlossen zu sein – Wasser unter sich und um sich herum – und nur diesen entwurzelten Mangobaum hatte, an dem sie sich festzuhalten vermochte. Stöhnend und ausgekühlt verschwand Streuner zwischen den Ästen des Mangobaums und kauerte sich dort einsam und allein zusammen. Sie wartete darauf, dass dieser Albtraum endlich verschwand und sie wieder in die ihr vertraute Welt mit Bäumen, Früchten und Anthros zurückversetzt wurde.
Das sollte jedoch nie geschehen.
Das Unwetter, so heftig es gewesen war, flaute rasch ab. Streuner sah fingerdünne Lichtstangen in den Blätter-Verhau dringen. Das Prasseln des Regens war verstummt und dem unheimlichen leisen Plätschern des Flusses gewichen.
Sie kroch zwischen den Ästen hervor und kletterte auf die Oberseite des Baums. Die Sonne war stark, als ob die Luft gereinigt worden wäre, und sie spürte, wie die Wärme tief ins Fell eindrang und es schnell trocknete. Für einen Moment genoss sie die Wärme und Trockenheit.
Jedoch gab es hier keinen Wald mehr: nur diesen Baum und seine entwurzelten Begleiter, die auf der graubraunen Wasseroberfläche trieben. Die Flussufer waren auch nicht mehr zu sehen. Ihr Blick ging bis zu einem messerscharfen Horizont – und sonst war der Baum nur von Wasser umgeben. Als sie den Weg zurückverfolgte, den das Floß genommen hatte, machte sie Land aus: eine grün-braune Linie, die den östlichen Horizont säumte.
Eine Linie, die zurückwich.
Das Pflanzen-Floß war ins Meer gespült worden, hinaus in den weiten Atlantik – mitsamt der Fracht aus Anthros, dem Dickbauch, den Rostroten und allen anderen.
II
Nach den Tagen von Noth hatte die Geometrie der rastlosen Welt sich stetig verändert und bestimmte weiterhin das Schicksal der Kreaturen, die die auseinanderdriftenden Kontinente bevölkerten.
Die beiden großen Risse, die den Untergang von Pangäa eingeleitet hatten – das ost-westliche Tethys-Meer und der nord-südliche Atlantik – schlossen respektive erweiterten sich. Afrika war auf Kollisionskurs mit Europa, derweil Indien nordwärts driftete und Asien rammte, wodurch der Himalaya aufgefaltet wurde. Doch die Berge waren kaum entstanden, als der Regen und die Gletscher sich ans Werk machten und das Gebirge durch Aushöhlung und Erosion wieder ins Meer spülten: Auf diesem turbulenten Planeten floss Gestein wie Wasser, und Gebirgszüge wurden traumgleich aufgefaltet und abgetragen. Die sich vereinigenden Kontinente schnürten den paradiesischen Fluss von Tethys ab. Reste dieses riesigen Meeres haben sich als Schwarzes und Kaspisches Meer sowie Aral-See und Mittelmeer in die Neuzeit hinübergerettet.
Als Tethys versiegte, setzte eine Dürre am Äquator ein. Einst hatte es Mangrovenwälder in der Sahara gegeben. Nun spannte sich im alten Bett von Tethys eine Halbwüsten-Vegetationszone um Nordamerika, das südliche Eurasien und das nördliche Afrika.
Inzwischen zerbrach auch die große Landbrücke, die den nördlichen Atlantik abgetrennt und von Nordamerika über Grönland und Großbritannien nach Nordeuropa sich erstreckt hatte. Nun ging der Atlantik ins Polarmeer über. Als die alte Ost-West-Passage geschlossen wurde, öffnete sich ein neuer Kanal von Süden nach Norden.
So änderten sich auch die Meeresströmungen.
Die Meere waren riesige Energiereservoirs – unruhig, instabil und ständig in Bewegung. Und die Meere wurden von Strömungen durchzogen, unsichtbaren Flüssen, gegen die jeder Fluss an Land ein bloßes Rinnsal war. Die Strömungen wurden durch die Sonnenwärme und die Erddrehung erzeugt; in den oberen paar Metern der Weltmeere war mehr Energie gespeichert als in der gesamten Atmosphäre.