Выбрать главу

Nun wurden die mächtigen äquatorialen Strömungen, die einst im Tethys-Meer vorgeherrscht hatten, unterbrochen. Zugleich prägten sich auch schon die Strömungen aus, die den sich verbreiternden Atlantik dominieren würden: ein Vorläufer des Golfstroms, ein mächtiger Fluss mit einer Breite von sechzig Kilometern und der dreihundertfachen Strömungsenergie des Amazonas floss von Süden nach Norden.

Diese Änderung der Zirkulationsmuster wirkte sich auch auf das Klima des Planeten aus. Die Äquatorialströmungen bewirkten nämlich eine Erwärmung, die interpolaren Nord-Süd-Strömungen hingegen eine Abkühlung der Erde.

Und zu allem Überfluss hatte Antarktika sich über den Südpol geschoben und wurde zum ersten Mal seit zweihundert Millionen Jahren von einer Eiskappe bedeckt. Gewaltige kalte, polare Meeresströmungen entstanden in den südlichen Gewässern und speisten die großen, nordwärts gerichteten Strömungen des Atlantiks.

Es hatte ein Paradigmenwechsel stattgefunden – der Beginn einer starken planetaren Abkühlung, die sich bis ins Zeitalter der Menschen und darüber hinaus fortsetzen sollte.

Auf dem ganzen Planeten zogen die alten Klimagürtel sich zum Äquator zurück. Tropische Vegetation überlebte nur in den Äquatorialbreiten. Im Norden erschien eine neue Art von Ökologie, eine gemäßigte Zone mit Mischwald aus Koniferen und Laubbäumen. Dieser Bereich bedeckte einen Teil der nördlichen Regionen und erstreckte sich von den Tropen über Nordamerika, Europa und Asien bis zur Arktis.

Der klimatische Kollaps löste ein neues Artensterben aus, das Paläobiologen später als den ›Großen Schnitt‹ bezeichneten. Es war ein lang anhaltendes, multiples Ereignis. In den Meeren wurde die Plankton-Population wiederholt dezimiert. Viele Gastropoden- und Muschelarten verschwanden.

Und an Land wurden die Säugetiere nach einer dreißig Millionen Jahre währenden Erfolgsgeschichte vom ersten Massensterben heimgesucht. Die Säugetierpopulation wurde um die Hälfte reduziert. Die exotischen Spezies aus Noths Tagen wurden dahingerafft. Dafür entwickelten sich neue, größere Pflanzenfresser mit kräftigen Mahlzähnen, die die grobe Vegetation zu zerkleinern vermochten, die für das jahreszeitlich geprägte Waldland typisch war. Zu Streuners Zeit durchstreiften bereits die ersten, mit Rüsseln und Stoßzähnen ausgestatteten Proboscidea die afrikanischen Ebenen. Mit dem Rüssel, dem an Flexibilität nur der Arm eines Tintenfischs gleichkam, stopfte das Tier sich die großen Futtermengen ins Maul, die es benötigte. Diese Deinotheria hatten kurze Rüssel und seltsam nach unten gebogene Stoßzähne, mit denen sie die Rinde von den Bäumen schälten. Im Gegensatz zu ihrem Vorfahren, dem Moeritherium, sahen sie aber aus wie Elefanten und wuchsen auch bald zur Größe der späteren afrikanischen Elefanten heran.

Und in dieser Zeit machten auch die Pferde einen großen Sprung. Die Nachkommen der ängstlichen Geschöpfe in Noths Wald hatten sich in viele Arten ausdifferenziert, die als Pflanzenfresser im Waldland lebten. Sie waren zum Teil so groß wie Gazellen und hatten kräftigere Zähne als ihre Vorfahren, sodass sie nun auch Blätter und nicht mehr nur weiche Früchte zu fressen vermochten. Eine andere Richtung waren Tiere mit längeren Beinen, die sich auf Gras als Nahrung spezialisierten. Die meisten Pferde hatten drei Zehen an Vorder- und Hinterfüßen, wobei die in der Ebene lebenden Läufer jedoch schon die seitlichen Zehen verloren und das ganze Gewicht auf den mittleren Zeh verlagerten. Doch in dem Maß, wie der Wald schrumpfte, verringerte sich auch seine Vielfalt, und bald würden viele Wald-Spezies verschwinden. Die Nagetiere diversifizierten sich mit dem Erscheinen der ersten Ziesel, Biber, Haselmäuse, Hamster und Eichhörnchen – und den ersten Ratten.

Die Primaten profitierten nicht von den veränderten Bedingungen. Ihr Lebensraum, die tropischen Wälder, war auf den Bereich der heutigen Tropen geschrumpft. Viele Primaten-Familien waren ausgestorben. Früchteesser wie Streuner harrten nur noch in den Regenwäldern Afrikas und Südasiens aus und lebten vom ganzjährigen Nahrungsangebot, das in diesen Wäldern noch vorhanden war. Als Streuner geboren wurde, existierten keine Primaten mehr nördlich der Tropen, und auf dem amerikanischen Doppelkontinent gab es seit dem Erscheinen der Nagetiere überhaupt keine mehr – keine einzige Art.

Das sollte sich aber bald ändern.

Das Meer um Streuner war eine stahlgraue Fläche, die mit der Trägheit von Quecksilber Wellen schlug. Streuner war an einem unbegreiflichen Ort, in einer elementaren zweidimensionalen Umwelt mit groben Konturen, die statisch und zugleich mit einer geheimnisvollen mahlstromartigen Bewegung erfüllt war. Der Unterschied zum Wald hätte nicht größer sein können.

Nervös kletterte sie über das Pflanzen-Floß. Jeden Moment rechnete sie damit, dass ein wilder Luft-Räuber ihr in den Kopf biss. Und sie spürte, wie das Floß unter ihr sich verwand, hörte, wie die lose verknüpften Bestandteile in der trägen Dünung des Meers raschelten. Es hatte den Anschein, dass das ganze Ding jeden Moment auseinander fiel.

Es waren nur noch sechs Anthros übrig: drei Männchen, zwei Weibchen – einschließlich Streuner – und das Baby, das sich schläfrig ans Fell seiner Mutter klammerte. Das waren die einzigen Überlebenden von Weißbluts Sippe.

Die Anthros saßen auf einem Astgewirr und beäugten sich gegenseitig. Es wurde Zeit, eine vorläufige Hierarchie zu bilden.

Für die beiden Weibchen waren die Prioritäten klar.

Das eine Weibchen, die Mutter, war ein über zehn Jahre altes, stämmiges Exemplar. Dieses Kind war ihr viertes, und - was sie nicht wusste – ihr einziger überlebender Nachkomme. Ihr auffälligstes Merkmal war ein kahler Fleck aus Narbengewebe an einer Schulter, wo ein Waldbrand ihr das Fell versengt hatte. Das Baby, das sich an Flecks Brust klammerte, war selbst für sein Alter zu klein – es war ein winziges Fellknäuel. Fleck, die Mutter, musterte Streuner abschätzig. Streuner war klein, jung und eine Fremde, nicht einmal eine entfernte Verwandte. Also drehte sie Streuner den Rücken zu und streichelte ihr Junges, Knäuel.

Streuner wusste, was sie zu tun hatte. Sie huschte über die Äste zu Fleck, grub ihr die Finger ins noch nasse Fell und glättete Verfilzungen und beseitigte Schmutzreste. Als sie Flecks Haut berührte, spürte sie Verhärtungen in der Muskulatur und traf Stellen, bei deren Berührung Fleck zusammenzuckte.

Bei der Massage durch Streuners kräftige Hände entspannte Fleck sich langsam. Wie allen anderen hatte auch Fleck die Vertreibung aus dem Wald und der Verlust der Familie stark zugesetzt. Und sie litt darunter, dass es sie in diese gähnende Leere verschlagen hatte. Es war, als ob sie unter der magischen Berührung Streuners für einen Moment vergaß, wo sie war. Selbst auf Knäuel, das Kind, schien der Kontakt der beiden Weibchen beruhigend zu wirken.

Streuner wurde durch die einfachen, sich wiederholenden Handgriffe des Kämmens und das soziale Band beruhigt, das sie zwischen sich und Fleck knüpfte.

Die Verhandlungen der Männchen waren da schon deftiger.

Weißblut wurde mit zwei jüngeren Männchen konfrontiert, bei denen es sich um Brüder handelte. Einer hatte ein besonderes brillenartiges Muster aus weißem Haar um die Augen, wodurch er ständig einen erstaunten Eindruck machte, und der andere war ein Linkshänder, sodass die Muskeln des linken Arms viel stärker entwickelt waren als die des rechten Arms.

Brille und Linkshänder waren jedoch jünger, kleiner und schwächer als Weißblut; im Wald wären sie keine Konkurrenz für ihn gewesen. Weißblut hatte aber seine Bundesgenossen verloren, und gemeinsam waren diese beiden ihm vielleicht doch überlegen.