Also warf er sich ohne zu zögern in Positur. Er stand unsicher auf zwei Beinen, brüllte und kreischte und warf mit Blättern. Dann drehte er sich um, spreizte die Beine und kotete durch das feuchte Fell.
Linkshänder wurde dadurch sofort eingeschüchtert. Er wich zurück und schlang die Arme um sich.
Brille ließ sich nicht so schnell den Schneid abkaufen und beantwortete Weißbluts Darbietung ebenfalls mit einem lauten Kreischen. Aber er war kleiner als Weißblut und ohne die Unterstützung seines Bruders dem älteren Männchen hoffnungslos unterlegen. Weißblut versetzte Brille Kopf- und Nackenschläge, worauf er zurückwich und auf den Rücken fiel. In einer Geste der Unterwerfung spreizte er Arme und Beine wie ein kleines Kind. Es war erst zu Ende, als Weißblut durch einen unvorsichtigen Schritt durchs Laub brach und ins kalte Wasser trat. Jaulend zog er das Bein zurück, setzte sich erschöpft hin und zog die Beine unter sich.
Aber er hatte sich behauptet. Die Brüder näherten sich ihm mit gesenkten Köpfen und in demütiger Haltung. Durch hektisches gegenseitiges Kämmen wurde die neue Hierarchie besiegelt, und die drei Männchen zupften sich gegenseitig Kotreste aus dem Fell.
Die Zweckgemeinschaften von Noth hatten Straßenbanden geglichen und waren im Grunde nur durch brutale Gewalt und Dominanz zusammengehalten worden, wobei die einzelnen Gruppenmitglieder sich kaum mehr als ihres Platzes in der Hierarchie bewusst waren. Inzwischen hatten die Vorzüge einer sozialen Lebensweise die Primaten-Gesellschaften jedoch geradezu barock verschnörkelt und die Entwicklung eines neuen Bewusstseins befördert.
Das Zusammenleben in einer Gruppe erforderte eine hohe soziale Kompetenz: Man musste wissen, wer wem gegenüber sich wie verhielt, wie die eigenen Handlungen damit zu vereinbaren waren und wen man wann das Fell zu kämmen hatte, um sich das Leben zu erleichtern. Je größer die Gruppe, desto zahlreicher die Beziehungen, die man verfolgen musste – und weil diese Beziehungen sich ständig änderten, brauchte man eine noch höhere Rechenkapazität, um das alles zu verarbeiten. Indem sie zuließen, dass ihr Gruppenleben ein solches Maß an Komplexität erreichte, nahm die Intelligenz der Primaten rasant zu.
Jedoch nicht bei allen Primaten.
Während dieses ganzen Zwischenfalls hatte Dickbauch auf dem Ast gesessen, auf dem sie es sich bequem gemacht hatte, und ihn methodisch der Blätter beraubt. Sie interessierte sich nicht für die Händel und die haarige Fummelei der Anthros.
Dickbauch hatte sogar die Gesellschaft von Artgenossen gemieden. Sie hatte die anderen Weibchen ignoriert und sich nur mit Männchen eingelassen, wenn sie den Drang zur Paarung verspürte – was jetzt der Fall war. Wenn Anthro-Weibchen wie Fleck und Streuner brünstig waren, schwollen ihre Genitalien an. Bei einem Geschöpf, das fast die ganze Zeit auf dem Hintern saß, hätte das jedoch wenig genützt. Deshalb prangten an Dickbauchs Brust rosige Knospen, die zu langen Warzen mit einer unmissverständlichen Botschaft angeschwollen waren. Weil aber kein Dickbauch-Männchen in der Nähe war, verpuffte der Effekt nutzlos.
Nicht dass es Dickbauch viel ausgemacht hätte. Sie wusste genauso wenig wie die Anthros, wo sie war und was ihr zugestoßen war, aber das kümmerte sie auch nicht. Sie sah nur, dass der entwurzelte Baum genug Blätter trug, um sie über den Tag zu bringen. Aber sie vermochte sich nicht vorzustellen, dass morgen ein weiterer Tag war und dass die Vorräte irgendwann aufgebraucht sein könnten.
Die Anthros wurden jedenfalls schon hungrig; ihr Körper setzte die nährstoffarme Nahrung schnell um. Sie lösten die Kämm-Gruppen auf und schwärmten über die Äste des entwurzelten Mangobaums aus. Der Baum hatte die meisten Früchte sowie die Bewohner verloren, als er in den Fluss gestürzt war. Brille, einer der Brüder, entdeckte jedoch schnell einen Fruchtstand, der zwischen einem Ast und dem Baumstamm eingeklemmt war. Mit einem Ruf verständigte er die anderen.
Die neue kleine Gesellschaft arbeitete effizient. Es gelang Brille zwar, sich eine Frucht zu schnappen, doch dann wurde er von Weißblut verdrängt. Und Weißblut musste wiederum Fleck weichen. Obwohl sie nur etwa zwei Drittel der Größe von Weißblut hatte, war das an ihrer Brust hängende Junge so etwas wie ein Rangabzeichen. Weißblut nahm sich eine Frucht und ließ Fleck dann grummelnd den Vortritt.
Streuner und die Brüder wussten, dass sie erst dann an die Früchte herankommen würden, wenn die Stärkeren sich bedient hatten.
Allein ging sie vorsichtig und auf allen vieren zum Rand des Floßes, wo das Gewirr der Äste nicht mehr ganz so dicht war. Die zwei furchtsam aneinander geschmiegten Rostroten flohen bei ihrer Annäherung. Durchs Laub sah sie schmutzigbraunes, träge plätscherndes Wasser, auf dem Holzstücke und Blätter trieben. Das gestreute, glitzernde Sonnenlicht drang durch Lücken in der Baumkrone. Das auf den Wellen tanzende Licht war bezaubernd und einlullend.
Streuner war ebenso hungrig wie durstig. Sie tauchte vorsichtig die Hand ins Wasser – es war kühl – und schöpfte einen Schluck. Das Wasser war nur leicht salzig, denn selbst in dieser Entfernung vom Land verdünnte die starke Strömung des Flusses das Meerwasser noch. Je mehr sie trank, desto stärker wurde aber der Salzgeschmack, und sie spie den letzten Schluck aus.
Die hungrigen und gelangweilten Brüder kamen herbei, als sie trank. Sie hatte den Kopf zwischen die Blätter gesteckt, die Arme ausgestreckt und das Hinterteil in die Höhe gereckt. Sie beschnüffelten sie neugierig und rochen, dass sie noch sehr jung war – zu jung zum Paaren.
Als die Älteren fertig waren, fielen Streuner und die anderen über die Früchte her.
Wo sie erst einmal einen vollen Bauch hatten, kamen die Anthros zur Ruhe. Aber das zerbrechliche Floß war schon so weit aufs Meer hinausgetrieben, dass das Land nicht mehr zu sehen war. Die Anthros hatten schon einen Großteil der Früchte des Mangobaums verzehrt. Und der zufrieden mampfende Dickbauch hatte bereits das halbe Laub von den Ästen gefressen.
Und keiner von ihnen hatte das hellgraue Dreieck bemerkt, das nur ein paar Meter entfernt durchs Wasser schnitt.
Der Hai umkreiste das primitive, sich auflösende Floß. Er war vom Festmahl angelockt worden, das die ertrunkenen Waldbewohner abgegeben hatten, als sie ins Meer gespült wurden und hatte das Blut gerochen, das aus dem Kadaver des Indricotheriums sickerte. Und nun spürte er Bewegung in der Baumkrone, die auf dem Wasser trieb. Er umkreiste sie berechnend und geduldig.
Der Hai war nicht so intelligent wie die Landbewohner. Aber er war auch kein Primat, nicht einmal ein Wirbeltier. Sein Rückgrat bestand nicht aus Knochen, sondern aus zähem Knorpel, die dem Hai eine größere Beweglichkeit verliehen als höher entwickelten Fischen. Der Kiefer bestand auch aus Knorpeln, in die Zähne eingelassen waren. Sie waren wie Steakmesser gezackt und hervorragend zum Abscheren von Fleisch geeignet. Die lange Schnauze wirkte plump, teilte das Wasser aber mit der Präzision eines U-Boots und war mit einer Nase ausgestattet, die auch geringste Blutspuren witterte. Unter dem Maul befand sich ein Spezialorgan mit einer außerordentlichen Schwingungsempfindlichkeit, das die Bewegungen eines verletzten oder kranken Tieres über große Entfernungen zu registrieren vermochte. Hinter dem kleinen Kopf bestand der ganze Körper des Hais aus lauter Muskeln; er war konsequent auf Kraft und Geschwindigkeit ausgelegt und glich einem Rammbock.
Die Haie waren seit dreihundert Millionen Jahren die Herrscher der Meere. Sie hatten die großen Auslöschungen überlebt, bei denen ganze Familien von Land-Räubern weggefegt worden waren. Sie hatten sich auch nicht der Konkurrenz durch neue Tierklassen stellen müssen, die zum Teil viel jünger waren – wie die richtigen Fische. In diesem langen Zeitraum hatte der Körperbau der Haie sich kaum verändert, weil es einfach nicht notwendig war.