Und dann machte Weißblut einen Satz. Mit der Präzision des auf Bäumen lebenden Primaten, der er schließlich war, entriss Weißblut Fleck das Kind. Er packte das Kind im Genick und lief zu Linkshänder, schnell gefolgt von einem nervösen Brille.
Fleck schien von dem Vorgang überrascht. Sie starrte Weißblut an, wobei das Hinterteil noch dem verschwundenen Männchen entgegengereckt war.
Die Männchen hatten einen Kreis gebildet. Die pelzigen Rücken wirkten wie eine Wand. Streuner sah, wie Weißblut Knäuel wiegte, fast als ob er sie säugen wollte. Das Baby zappelte mit den Beinchen und schaute gurgelnd zu Weißblut auf. Dann legte Weißblut ihr die Hand auf den Kopf.
Plötzlich begriff Fleck. Sie heulte auf und machte einen Satz.
Aber die Brüder stellten sich ihr entgegen. Jedes dieser halbwüchsigen Männchen war größer als sie. Obwohl sie Bedenken hatten, sich einem ranghohen Weibchen gegenüber feindselig zu verhalten, wehrten sie sie mit Klapsen und Schreien leicht ab.
Weißblut schloss die Hand. Streuner hörte das Knacken von Knochen – ein Geräusch, als ob ein Dickbauch in ein knackiges Blatt bisse. Das Baby zuckte konvulsivisch und erschlaffte. Weißblut schaute für einen Moment auf den kleinen Körper und betrachtete das im Todeskampf verzerrte olivfarbene Gesicht mit einem wechselnden Gefühlsausdruck. Und dann fielen die Männchen über den winzigen Körper her. Ein Biss ins Genick, sodass der Kopf fast abgetrennt wurde; Weißblut zerrte an den Gliedmaßen, bis Knorpel rissen und Knochen knackten. Aber es war gar nicht einmal das Fleisch, auf das die Männchen es abgesehen hatten, sondern das Blut, das aus dem aufgerissenen Hals des Kinds floss. Sie tranken gierig die warme Flüssigkeit, bis Münder und Zähne sich hellrot gefärbt hatten.
Fleck heulte, warf sich in Drohpositur, tobte auf dem Floß herum, wobei sie an Ästen und Blättern zerrte, und schlug die Männchen auf den Rücken. Das Floß erzitterte und schwankte, sodass Streuner sich ängstlich an den Ast klammerte. Aber es war nicht mehr zu ändern.
Weißblut hatte ihr im Grunde auch nichts vorgemacht. Genauso wenig wie sein Altvorderer Noth vermochte er sich in andere hineinzuversetzen und war deshalb auch nicht in der Lage, falsche Maximen in ihre Köpfe zu pflanzen – jedenfalls nicht wirklich. Die Anthros hatten jedoch eine hohe soziale Intelligenz und verfügten über eine gute Problemlösungs-Kompetenz, wenn sie neuen Herausforderungen gegenüberstanden. Weißblut, der auf seine Art ein Genie war, hatte diese Facetten zu kombinieren und einen Plan zu entwickeln vermocht, Knäuel seiner Mutter erfolgreich zu entwenden.
Mit einem letzten heiseren Schrei warf Fleck sich gegen den Mangobaum und baute sich aus abgebrochenen Ästen eine Art Nest. Und noch immer labten die Männchen sich an ihrer Beute, begleitet von lautem Schmatzen und dem Knacken der Knochen zwischen den Zähnen.
Streuner, deren Kopf vom Gestank des Bluts erfüllt war, ging zum Rand des Floßes, wo tote Äste wie Finger im Wasser trieben.
Das trübe Meerwasser war wie eine dünne Suppe und voller Leben. Die oberen, von der Sonne durchdrungenen Schichten waren mit Algenplankton angereichert, einer kompakten mikroskopischen Ökologie. Das Plankton war wie ein Wald im Meer, wobei dieser Wald jedoch seines Überbaus aus Blättern, Zweigen, Ästen und Baumstämmen entkleidet war und nur noch die winzigen chlorophyllhaltigen Zellen der Baumkronen übrig waren, die in der reichen Nährlösung schwammen. Obwohl sich die ökologische Struktur des Planktons in einer halben Milliarde Jahren nicht verändert hatte, waren die Spezies in ihm gekommen und gegangen und der Variation und Auslöschung zum Opfer gefallen wie andere auch; genauso wie an Land wurden in diesem Wasserreich Spiele über viele Runden ausgetragen, wobei die Akteure immer wieder ausgewechselt wurden.
Eine Qualle trieb vorbei. Dieser Planktonfresser war ein durchsichtiger Sack, der sich träge ausdehnte und zusammenzog. Er war mit silbrigen fransenartigen Tentakeln besetzt, die Giftzellen enthielten, mit denen das Plankton gelähmt wurde.
Verglichen mit den meisten Tieren war die Qualle eine primitive Kreatur. Sie hatte eine simple radiale Symmetrie ohne Substanz und Gewebeorganisation. Und sie hatte nicht einmal Blut. Aber die Form war uralt. Einst war das Meer voller Geschöpfe gewesen, die der Qualle mehr oder weniger geglichen hatten. Sie hatten sich am Meeresboden verankert und das Meer in einen Wald brennender Tentakel verwandelt. Sie mussten auch gar nicht aktiv sein und wurden weder von Räubern noch von anderen hungrigen Kreaturen bedroht, weil die Luft nicht genug Sauerstoff enthalten hatte, um derart gefährliche Ungeheuer mit Energie zu versorgen.
Für Streuner war das Meer etwas Unbegreifliches. Wasser war für sie etwas, das in Teichen, Flüssen und Pflanzen-Kelchen vorkam – eine frische, salzfreie Flüssigkeit, die man trank, wenn das gefahrlos möglich war. Nichts in ihrer Erfahrung und in der neuronalen Programmierung hatte sie darauf vorbereitet, über einem weiten umgestülpten Himmel zu hängen, durch den so bizarre Kreaturen wie die Qualle trieben.
Und sie war durstig, schrecklich durstig. Sie tauchte die Hand in diese sämige Suppe und führte eine Hand voll Wasser zum Mund. Sie hatte ganz vergessen, dass sie das vor weniger als einer Stunde schon einmal getan hatte, und den bitteren Geschmack der Brühe hatte sie auch schon wieder vergessen.
Sie sah, dass die Männchen ihr Mahl beendet hatten und in der Hitze in eine Art Starre verfallen waren. Von Fleck war nicht mehr als ein Fuß mit gekrümmten Zehen zu sehen, der aus dem Nest ragte.
Vorsichtig ging Streuner zu der Stelle, wo sie das Baby geschlachtet hatten. Die Äste waren mit Blut verschmiert, das Anthro-Zungen abgeleckt hatten. Streuner durchsuchte gründlich das Laub. Vom Kind war nichts mehr übrig außer einem dünnen Fellfetzen und einer unversehrten kleinen Hand. Sie schnappte sich die Hand und zog sich so weit wie möglich von den anderen in eine Ecke des Floßes zurück.
Die Hand war schlaff und entspannt, als ob sie zu einem schlafenden Kind gehörte. Streuner strich sich damit kurz über die Brust und erinnerte sich daran, wie Knäuel an ihrem Fell gezupft hatte.
Doch Knäuel gab es nicht mehr.
Streuner biss dicht überm Knöchel in den Mittelfinger. Das weiche Fleisch reizte den trockenen Gaumen. Mit einer schnellen, ruckartigen Bewegung zog sie das Fleisch vom Knochen ab. So verfuhr sie auch mit den anderen Fingern und verspeiste dann das weiche Fleisch des Handballens. Als sie die Hand bis auf die Knochen abgenagt hatte und nur noch ein paar Knorpel- und Fleischfetzen daran hingen, zerbiss sie die winzigen Knochen und sog ein paar Tropfen Mark aus.
Dann warf sie den Rest ins endlose Meer. Sie sah, wie kleine silbrige Fische sich versammelten, ehe die Knochen noch in der Tiefe versanken.
Fleck blieb zwei Tage lang in ihrem Nest und rührte sich kaum. Die Männchen lagen reglos durcheinander und zupften sich gelegentlich am immer dünner werdenden Fell.
Streuner schlich schlapp um den Baum herum und suchte nach Linderung. Im Mund sammelte sich kein Speichel mehr. Die Zunge hatte sich zu einem gefühllosen, unbeweglichen Klumpen verhärtet und lag ihr wie ein Stein im Mund. Sie vermochte weder Rufe noch Schreie auszustoßen und brachte nur noch ein unartikuliertes Stöhnen hervor. Sie stocherte sogar im getrockneten Kot, den der Dickbauch abgesondert hatte, und suchte nach Feuchtigkeit oder vielleicht ein paar unverdauten Nusskernen. Der Dung des Pflanzenfressers war jedoch unergiebig und trocken. Erschöpft gab sie auf und dämmerte in einem Zustand zwischen Schlaf und Wachen vor sich hin.
Am dritten Tag nach Knäuels Tod begann Fleck sich wieder zu regen. Streuner beobachtete sie apathisch.
Fleck kroch auf allen vieren und taumelte benommen, weil der Flüssigkeitshaushalt nach der langen Ruhepause aus dem Lot geraten war – und Streuner sah, dass sie sich an den Bauch fasste. Sie war schwanger von Weißblut, und diese Schwangerschaft entzog dem ausgezehrten Körper auch noch die letzten Reserven. Sie rappelte sich aber wieder auf und näherte sich den Männchen.