Und sie dachte ständig an Linkshänders Leiche.
Sie stand langsam auf und ging zu Linkshänders Körper. Die Brust war gespalten – durch das Austrocknen der Haut hatte sich nach dem Tod eine Wunde geöffnet. Aber der Gestank war seltsamerweise gar nicht so schlimm. In dieser Wasserwüste lief der Verwesungsprozess, der Linkshänders Leiche im Wald schnell zersetzt hätte, nur sehr langsam ab. Die Mumifizierung, die schon zu Lebzeiten eingesetzt hatte, ging weiter.
Vorsichtig schob sie die Hand in die Wunde und berührte fast schon trockene Rippen. Sie zupfte am Brustfleisch. Es ließ sich leicht abziehen und brachte den Brustkorb zum Vorschein.
Es war kaum noch Muskelgewebe am Körper vorhanden. Auch kein Fett, nur Spuren einer durchscheinenden, klebrigen Substanz. Sie sah die Organe in Linkshänders Bauchhöhle: Herz, Leber und Nieren. Sie waren geschrumpft und sahen aus wie harte schwarze Früchte.
Ja, wie Früchte.
Streuner stieß die Hand in den Brustkorb. Er splitterte mit einem Knacken und brachte die fleischigen Früchte ans Licht.
Sie schloss die Hand um das schwarz verfärbte Herz. Es löste sich mit einem leisen Reißen.
Sie holte das Herz heraus und biss hinein, als sei es nicht exotischer als eine seltene Mangofrucht. Das Fleisch war mager, faserig und widersetzte sich den Zähnen, die nur noch lose im Kiefer steckten. Doch dann schlug sie die Zähne in das Organ und wurde mit etwas Flüssigkeit belohnt – Herzblut, das noch nicht eingetrocknet war.
Anstatt den Hunger zu lindern, war das Fleisch jedoch ein Appetithappen, der Streuners atavistische Fresslust erst richtig entfachte. Die Speichelbildung setzte wieder ein, und es wurden Verdauungssäfte in den schmerzenden Magen gepumpt. Sie erbrach die ersten Bissen ins Meer, ließ sich aber nicht irritieren und aß solang weiter, bis sie das feste, faserige Fleisch bei sich behielt.
Linkshänders milchig-weiße, trübe Augen starrten noch immer blicklos in die Sonne, die ihn umgebracht hatte, und die Finger der linken Hand waren noch immer ausgestreckt.
Fleck hatte sich wieder geregt und lief vorsichtig auf Streuner zu. Ihre Haut war ein straffer Überzug, an dem nur noch ein paar Büschel des einst so schönen schwarzen Fells klebten. Neugierig wühlte sie in Linkshänders offener Brust und holte die Leber heraus, die sie hastig verschlang.
Brille hatte sich in der Zwischenzeit nicht bewegt. Er nahm keinen Anteil am Schicksal seines Bruders und lag mit gespreizten Gliedmaßen auf der Seite. Er schien wie tot, aber Streuner erkannte eine unmerkliche Bewegung. Seine Brust hob und senkte sich langsam wie das Wogen des Meers: Er investierte die letzte Kraft in die Atmung.
Streuner ließ sich nun vom Instinkt leiten. Fleck war von Weißblut geschwängert worden, aber vielleicht hatte ihr Körper den Fötus auch zerstört und ihn genauso wie die Muskeln und das Fett verzehrt, um die Funktionsfähigkeit des Organismus aufrechtzuerhalten. Zwei Weibchen allein hatten keine Perspektive außer dem Tod. Also musste Brille, das letzte Männchen, am Leben erhalten werden.
Streuner kehrte zur Leiche zurück und entnahm ihm eine Niere, auch so ein schwarzes, verschrumpeltes Stück Fleisch.
Sie trug die Niere zu Brille und steckte sie ihm in den Mund. Schließlich regte er sich. Mit einer Bewegung so schwach wie die eines Kinds nahm er den Fleischklumpen und nagte ihn langsam an.
Dabei machte die Nahrung sie umso hungriger, weil ihr das Fett fehlte, das für die richtige Verdauung notwendig gewesen wäre. Dennoch kehrten die drei Überlebenden immer wieder zur Leiche zurück, räumten die Bauchhöhle aus und nagten das Fleisch von Gliedmaßen, Rippen, Becken und Rücken ab. Schließlich waren nur noch verstreute Knochen übrig – Knochen und ein Schädel mit Augäpfeln, die noch immer in die Sonne starrten.
Danach zogen die drei Anthros sich wieder in ihre Ecken zurück. Wenn sie Menschen gewesen wären, hätten sie nun – wo das Tabu, das Fleisch eines Artgenossen zu verzehren, gebrochen war – grausame Kalkulationen angestellt. Noch ein Toter hätte schließlich noch mehr Fleisch für die Überlebenden bedeutet und zugleich die Anzahl derjenigen verringert, mit denen man es teilen musste.
Es war vielleicht eine Gnade, dass die Anthros nicht so weit zu denken vermochten.
IV
Das Floß ruckte unter ihr. Die Bewegung war zu heftig, um vom trägen Wellengang des Meers verursacht worden zu sein. Aber sie war zu erschöpft, um noch Neugier zu empfinden und blieb reglos auf dem schwankenden Floß liegen. Äste pieksten ihr in den ausgemergelten Körper.
Sie verspürte ständig Schmerzen. Die Knochen fühlten sich an, als ob sie die Haut durchstoßen wollten, die nur noch ein einziges Geschwür war. Die ausgetrockneten Lider vermochte sie kaum noch zu schließen. Die Erinnerung glich einer mit optischen und akustischen Eindrücken angefüllten Rumpelkammer: das Gefühl, wie die kräftigen Finger ihrer Schwester sie kämmten, der vertraute Geruch der warmen Muttermilch, die begehrlichen Schreie der Männchen, die glaubten, sie können alle Weibchen haben. Und dann wurden die süßen Träume von mächtigen zuschnappenden Kiefern aus den Tiefen der Welt verschlungen…
Sie verspürte wieder einen Ruck, und das trockene Holz knarrte. Sie hörte das Geräusch sich brechender Wellen, das sich vom monotonen Plätschern der offenen See deutlich unterschied.
Vögel kreischten über ihr.
Sie schaute auf. Das waren die ersten Vögel, die sie sah, seitdem sie ins Meer gespült worden war. Sie waren schneeweiß und zogen hoch über ihr ihre Kreise.
Etwas bewegte sich auf ihrer Brust. Es fühlte sich wie leicht kratzende Finger an; vielleicht wollte jemand sie kämmen. Mit einer Kraftanstrengung hob sie den Kopf. Er wackelte, und die Kopfhaut spannte sich wie eine Maske. Die Zunge lag ihr wie ein Holzpflock im Mund. Sie hatte Schwierigkeiten, die blutenden Augen zu fokussieren.
Etwas krabbelte über sie: ein flaches orangefarbenes Ding mit vielen segmentierten Beinen und großen erhobenen Scheren. Sie stieß ein leises, heiseres Winseln aus und wischte mit dem Arm über die Brust. Die Krabbe verzog sich indigniert.
Trotz der von der Sonne geschwärzten Nase roch sie etwas Neues. Wasser. Nicht etwa die stinkende Brühe des Meers, sondern frisches Wasser.
Sie hob den Arm und zog an den Blättern. Sie war ein körperliches Wrack. Die platzenden Blasen und reißenden Narben verursachten höllische Schmerzen. Mit einer enormen Anstrengung gelang es ihr, sich aufrecht hinzusetzen und die Beine zu falten. Der Kopf wackelte haltlos auf dem Hals. Und es kostete sie noch mehr Energie, den Kopf zu heben und die geschundenen Augen zu benutzen.
Grün.
Sie sah Grün, einen dicken horizontalen Streifen, der sich von einem Horizont zum andern zog. Es war das erste Grün, das sie sah, seit die Blätter des Mangobaums sich zusammengerollt und braun verfärbt hatten. Nach einer so langer Zeit von Blau und Grau, mit nichts als Himmel und Wasser, erschien das Grün strahlend hell, so hell, dass sie schier geblendet wurde – es war wunderschön wie eine Verheißung. Schon der bloße Anblick schien sie wieder zu beleben.
Halb kriechend bewegte sie sich vorwärts. Das tote Laub des Mangobaums piekste und ritzte sie, aber es verursachte keine Blutung, nur Dutzende winziger Schmerzquellen.
Sie erreichte den Rand des Floßes. Kein Meer, kein Wasser. Sie sah einen schmalen grobkörnigen Sandstrand, der sich in einer leichten Steigung zu einem lichten Wald hinaufzog. Leuchtend blaue und orangefarbene Vögel flogen durch die Baumkronen und trillerten lieblich.
Ihren ersten Eindruck hätte man so zusammenzufassen vermocht: Ich bin wieder zuhause. Aber das war sie nicht.
Sie zog sich über die Äste und fiel in den Sand. Er war heiß, glühend heiß und brannte auf der nackten Haut. Sie richtete sich winselnd auf und humpelte – als sei sie stark gealtert – den Strand zum Wald hinauf.