Hier war das anders. Auf einem einheitlichen Kontinent war die Versuchung zu groß, in den großen Regenwäldern zu bleiben.
Streuners Kinder würden niemals von den Bäumen herunterkommen. Sie würden auch nicht viel intelligenter werden, als sie jetzt schon waren. Und sie würden auch keine Rolle für das zukünftige Schicksal der Menschheit spielen, es sei denn als Haustiere, Fleischlieferanten oder Objekte wissenschaftlicher Neugier.
Doch all das lag noch weit in der Zukunft.
Streuner fühlte sich nach der kurzen Zeit im Wald und durch das Wasser, das sie getrunken hatte, schon viel besser. Sie schaute sich um. Im Unterholz sah sie einen roten Tupfer und stolperte in diese Richtung. Sie fand eine unbekannte, aber dicke und weiche Frucht. Sie biss hinein. Als sie das Fruchtfleisch kaute, spritzte Saft heraus und benetzte das Fell. Etwas so Köstliches und Süßes hatte sie noch nie gegessen.
KAPITEL 7
Die letzte Höhle
Ellsworth Land, Antarktika, vor ca. 10 Millionen Jahren
Die Höhlengräber schlichen durchs harte, struppige Gras, das sich an die Dünen klammerte. Es waren ihrer sehr viele. Sie wuselten so dicht gedrängt durcheinander, dass sie wie ein wogender braungrauer Flokatiteppich anmuteten.
Graben machte ein dichtes Farndickicht auf einer kleinen Landzunge aus, die das Meer überblickte. Weil die jagende Meute dort nicht ganz so dicht schien, schlug sie diese Richtung ein. Im Schutz der Farne zerpflückte sie die Wedel mit ihren beweglichen fünffingrigen Händen und knabberte an den braunen Sporen.
Mit ihren drei Jahren war Graben schon einer der ältesten Höhlengräber. Sie war nur ein paar Zentimeter lang. Sie war dick und rund und mit einem dichten braunen Fell bedeckt, um die Körperwärme besser zu speichern. Sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Lemming. Aber sie war kein Lemming. Sie war ein Primat.
Von hier aus sah sie das Meer. Die Sonne hing tief am nördlichen Himmel über der endlosen Wasserwüste. Es war Herbst in der Arktis, und die Sonne verschwand schon für mehr als die Hälfte des Tages hinterm Horizont. Und weit vom Land entfernt hatte sich bereits Packeis gebildet. Graben sah, dass in Küstennähe Schichten aus matschigem grauem Eis entstanden, die sich auf dem Wasser kräuselten. Ihr Körper wusste, was das zu bedeuten hatte. Die von Licht erfüllten Tage des Sommers waren nur noch eine verschwommene Erinnerung; bald würde sie die Wintermonate in völliger Dunkelheit aushalten müssen.
Auf einer Packeisplatte sah sie einen Blutfleck, mit dem die schimmernde Oberfläche verschmiert war, und einen unidentifizierbaren Fleischhaufen. Kreischende Vögel kreisten in der Luft und warteten darauf, sich über den blutigen Kadaver herzumachen. Und ein langer, starker Schatten glitt durchs Wasser. Eine große Schnauze stach aus dem kalten Wasser, um sich ihren Anteil an der Beute zu holen.
Der Meeres-Fleischfresser war eine Amphibie und stammte von einer Art mit der Bezeichnung Koolasuchus ab. Das vier Meter lange Wesen sah aus wie ein monströser Raubfrosch. Der Frosch war ein Überbleibsel aus uralten Zeiten, als die Amphibien noch die Welt beherrscht hatten. In den tropischen Klimazonen hatten seine Vorfahren gegen die Krokodile den kürzeren gezogen, denen sie in Größe und Form stark ähnelten. Die großen Amphibien waren schon auf dem absteigenden Ast gewesen, als die ersten Dinosaurier auf der Erde auftauchten, doch im kalten Wasser der Polarregionen hatten sie sich behauptet.
Selbst in dieser Entfernung schauderte Graben in der Deckung des Farns.
Plötzlich raste eine kompakte gefiederte Gestalt über die Ebene der Tundra heran. Die durcheinander wuselnden Höhlenbauer stoben panisch auseinander, und Graben kauerte sich zusammen. Der Neuankömmling lief aufrecht auf langen, kräftigen Beinen. Die Hände, die vor dem Hintergrund des dichten weißen Gefieders kaum zu sehen waren, waren mit messerscharfen Klauen besetzt. Diese Kreatur rannte nun ins Wasser und schwamm zu der Eisscholle hinaus, wo sie sich mit der Amphibie um Brocken des Kadavers stritt, wie in späteren Zeiten Polarfüchse versuchten, Eisbären ihre Beute streitig zu machen.
Der weißgefiederte Räuber sah aus wie ein flügelloser Vogel. Der er aber nicht war. Er war ein Abkömmling der Velociraptoren aus der Kreidezeit.
Auf Antarktika gab es fünfzig Millionen Jahre nach dem Kometeneinschlag noch immer Dinosaurier.
Graben wandte sich von der blutigen Szene an der Küste ab und ging landeinwärts. Sie bewegte sich vorsichtig und blieb immer in Deckung. Hier und da sah sie weiße Federn, die der Raptor verloren hatte, als er zum Kadaver auf dem Eis gerannt war.
Schließlich erklomm sie die letzte Düne und schaute über die Landschaft.
Sie war eine große grün-braune Ebene, die hier und da vom Blau von Wasser durchsetzt war. Das Gras war noch immer dick, obwohl es sich schon zurückzog, und wo es noch nicht ganz verschwunden war, hatte es sich goldbraun verfärbt. Die meisten Blumen waren verblüht, weil es keine Insekten mehr gab, die sie anzulocken vermochten; an manchen Stellen hielten sich aber noch leuchtende, schöne Blumen wie Steinbrech. Um die schimmernden Süßwasserteiche versammelten sich Tiere zum Trinken. Aber die Teiche waren auch schon mit grauem Eis bedeckt.
Es war eine typische Tundra-Szene – ein Ausschnitt aus einem Landschaftsgürtel, der noch immer den Kontinent umspannte.
Und durch diese Tundra marschierten Dinosaurier.
Ein paar Kilometer im Südwesten erblickte Graben etwas, das wie eine dunkle Wolke aussah, die über den Boden zog. Es war eine Herde Muttas. Ihr Atem hing als Dampfwolken in der kühlen Luft. Sie waren Dinosaurier, große Pflanzenfresser. Aus der Ferne muteten sie wie Mammuts ohne Stoßzähne an. Aus der Nähe traten jedoch ihre klassischen Dinosaurier-Merkmale zutage: Die Hinterbeine waren kräftiger als die Vorderläufe, sie hatten dicke Schwänze, mit denen sie das Gleichgewicht hielten, und sie legten ein seltsam rastloses und nervöses Verhalten an den Tag, das eher an Vögel als an Säugetiere erinnerte – und manchmal stellten sie sich auch auf die Hinterbeine und bellten mit der Wildheit eines Tyrannosaurus.
Die Muttas stammten vom Muttaburrasaurus ab, stämmigen Pflanzenfressern aus dem Jura, die sich seinerzeit von Zikaden, Farnen und Koniferen ernährt hatten. Als die Kälte sich über Antarktika gelegt hatte, hatten die Muttas gelernt, von der kargen Vegetation der Tundra zu leben. Ihre Leiber waren kompakt und rund geworden und sie hatten sich einen dicken Mantel aus mehreren Lagen dunkelbrauner schuppiger Federn zugelegt. Mit der Zeit hatten sie sich in große Pflanzenfresser verwandelt, die in der Tundra umherwanderten: eine Rolle, die später und anderswo von Tieren wie Karibus, Moschusochsen und Mammuts übernommen wurde. Das traurige Trompeten, das sie mit aufblasbaren Hautsäcken auf den großen hornigen Schnauzen produzierten, hallte von den Eiswänden im Süden wider.
Einst waren die Muttas über den ganzen Kontinent gewandert und hatten den kurzen, aber üppigen Sommer ausgenutzt. Das vorrückende Eis hatte die Muttas jedoch dezimiert, und die restlichen Herden wanderten irgendwie verloren über den immer schmaleren Tundrastreifen zwischen Eis und Meer.
Diese Mutta-Herde wurde von einem einsamen Jäger verfolgt.
Stocksteif inspizierte der Zwerg-Allosaurier die Mutta-Herde. Er sah aus wie eine goldene gefiederte Statue. Der Allo war ein geschrumpftes Überbleibsel einer Familie von Tieren, die andernorts längst ausgestorben waren – er stammte in direkter Linie vom Jura-Löwen ab, der Stego getötet hatte. Die Herde hatte den Allos aber schon bemerkt und blieb dicht zusammen; die Jungen hatten sie in die Mitte genommen. Die Bewegungen des Allos waren träge, als ob er unter Drogen stünde. Er hatte eine erfolgreiche Jagdsaison hinter sich, und der Stoffwechsel schaltete mit dem eingelagerten Fett in der zunehmenden Kälte schon auf Sparflamme. Bald würde der Allo in der Art von Eisbären eine Winterhöhle in den Schnee graben.