Allo-Weibchen legten die Eier gegen Ende des Winters und brüteten sie in der Sicherheit des Schnees aus. Die Säugetiere von Antarktika freuten sich aber schon auf den Frühling, weil die Aussicht bestand, dass plötzlich eine Schar gefräßiger Allosaurier-Babys aus dem Schnee sprang und sich bei der Verfolgung ihrer ersten Mahlzeit selbst in die Haare geriet.
Plötzlich machte sich unter den Höhlengräbern Unruhe breit. Die kalte Brise von der Eiskappe trug einen intensiven Fleischgeruch heran. Eier.
Sie rannte so schnell sie konnte durch die Farne und das hohe Gras, ohne sich Gedanken um ihre Sicherheit zu machen.
Das Nest enthielt Dinosaurier-Eier: die Eier eines Mutta. Das war aber ein ungewöhnlicher Fund für diese Jahreszeit und noch dazu so weit von den Brutstätten der Muttas entfernt. Vielleicht waren diese Eier von einer kranken oder verletzten Mutter abgelegt worden. Es waren bereits Höhlengräber am Werk, und in der durcheinander wimmelnden Masse tummelten sich auch ein paar größere Steropodons: Die plumpen, schwarzhaarigen und irgendwie unfertig anmutenden Kreaturen stammten von Säugetieren ab, die den südlichen Kontinent seit dem Jura bevölkert hatten.
Graben gelang es, sich einen Weg ins Nest zu bahnen, ehe es völlig zerstört war. Bald waren Gesicht und Hände mit klebrigem Dotter verschmiert. Aber die Konkurrenz um die Eier geriet schnell zu einer heftigen Schlacht. Es gab in diesem Herbst Unmengen von Höhlengräbern in der Tundra, viel mehr als im letzten Jahr. Und Graben war intelligent genug, um diese Masse der Höhlengräber auf einer tiefen Ebene als zutiefst beunruhigend zu empfinden.
Es gab mehrere Ursachen für eine so starke Vermehrung. Die Höhlenbauer waren Teil eines komplexen ökologischen Kreislaufs der üppigen Natur, den Insekten, die von ihr lebten und den Fleischfressern, die sich wiederum von Insekten ernährten. In solchen Zeiten der Übervölkerung schwärmten Höhlengräber vom Instinkt getrieben über das grüne Land aus, um in leeren Gebieten neue Höhlen zu graben. Viele von ihnen fielen Räubern zum Opfer, aber das war der Lauf der Dinge – es überlebten immer noch genug.
Jedenfalls war das bisher immer so abgelaufen. Wo das Eis jedoch vorrückte und die Tundra schrumpfte, gab es keine Rückzugsmöglichkeiten mehr als in die ohnehin schon übervölkerten Gebiete. Deshalb wurden derartige Ansammlungen und Kämpfe zum Dauerzustand.
Das war natürlich schlecht für das Mutta, das diese Eier gelegt hatte. Die Muttas hatten die Eier auf dem Erdboden ausgebrütet, wie ihre Vorfahren es schon getan hatten. Jedoch wurden sie dadurch verwundbar für Räuber wie die Höhlengräber. Die Hauptursache für den Niedergang der Muttas war die zunehmende Konkurrenz um das Protein, das in ihren Eiern enthalten war. Große Pflanzen fressende Säugetiere wie Mammuts und Karibus hätten bessere Chancen gehabt, weil ihre Jungen in dieser entscheidenden Phase ihres Lebens sicherer waren. Aber die Muttas, die wie die anderen hier gestrandet waren, nachdem Antarktika von den anderen Kontinenten weggedriftet war, hatten in dieser Hinsicht keine Wahl.
Plötzlich stieß eine Klaue vom Himmel herab. Mit einem in über zweihundert Millionen Jahren geschärften Instinkt presste Graben sich an den Boden, während die Höhlengräber quiekend durcheinander liefen.
Die Klaue schnappte sich einen kleinen, halbwüchsigen Höhlengräber und steckte ihn in einen aufgerissenen Mund. Erneut zischte die Klaue durch die Luft. Diesmal griff sie jedoch ins Leere, denn die Säugetiere hatten sich bereits zerstreut. Und nach einer Weile hörte Graben unverkennbare Schmatzgeräusche, als ein Zackenschnabel ein Mutta-Embryo nach dem andern zerquetschte.
Dieser Räuber war eine Leaellynasaura. Er war ein Dinosaurier, der die Gestalt eines athletischen Huhns hatte. Die Leaellynasaurae vermochten keine großen Beutetiere zu jagen und betätigten sich deshalb als Aasfresser. Für diese Leaellynasaura wie für die Säugetiere war ein Mutta-Ei in dieser vorgerückten Zeit des Jahres eine seltene Delikatesse.
Während die Leaellynasaura fraß, versuchte Graben sich ganz ruhig zu verhalten, um nicht die Aufmerksamkeit des Killers zu erregen. Aber sie hatte Hunger. Es war nur ein kurzer, unergiebiger Sommer gewesen, und sie hatte nicht genug Fett anzusetzen vermocht, um die Widrigkeiten des Winters zu überstehen. Und nun fraß die Leaellynasaura die Eier – all ihre Eier.
Zorn und Verzweiflung gewannen schließlich die Oberhand über die Vorsicht. Sie stellte sich auf die Hinterbeine und zischte mit ausgebreiteten Pfoten.
Die Leaellynasaura, deren Mund mit Blut und Dotter verschmiert war, zuckte beim Anblick dieser Erscheinung erschrocken zurück. Doch dann sagte das kleine Reptilien-Bewusstsein ihr, dass dieses Ding keine Gefahr für eine Leaellynasaura bedeutete. Ganz im Gegenteil – dieses warme Fellknäuel war trotz der ungewöhnlichen Pose ein leckerer Happen, besser als Embryos und Eigelb.
Die Leaellynasaura öffnete den Mund und setzte zum Sprung an.
Graben ergriff die Flucht. Das Nest war verloren, und der Hunger wühlte in ihren Eingeweiden.
Graben stammte in direkter Linie von Plesi ab, dem kleinen Carpolestiden, der ein paar Millionen Jahre nach dem Einschlag des Teufelsschweifs die sich erwärmende Welt bewohnt hatte. Plesis Nachkommen hatten sich über den ganzen Planeten ausgebreitet und waren über Landbrücken, Inseln und mit Flößen von einem Inselkontinent zum andern gewandert. Ein Zweig der alten Familie hatte zu einer Zeit, da der südlichste Kontinent sich noch nicht über dem Pol zentriert hatte, eine Landbrücke zwischen Südamerika und Antarktika überquert.
Und hier waren sie auf Dinosaurier gestoßen.
Selbst in der warmen Kreidezeit hatten die Dinosaurier von Antarktika die langen Monate der Polarnacht aushalten müssen. Deshalb hatten diese Überlebenden, die die globale Katastrophe überstanden hatten, auch den anschließenden Kometen-Winter gut überstanden, während ihre Zeitgenossen in den wärmeren Breiten untergegangen waren.
Die Kontinente – Bruchstücke des alten Superkontinents, der sich noch immer in Auflösung befand – waren jedoch immer weiter auseinandergedriftet. Antarktika hatte sich von den anderen Teilen des südlichen Pangäa getrennt und bald so weit von ihnen entfernt, dass keine Landbrücken und Floßpassagen mehr möglich waren. Und während die Welt sich vom Einschlag erholte, schlugen die Flora und Fauna von Antarktika eine einzigartige Entwicklung ein. Hier ging das uralte Spiel Dinosaurier gegen Säugetier in die Verlängerung – und hier mussten die Säugetiere wegen der Übermacht der Dinosaurier und dem strengen Regiment von Väterchen Frost noch immer in den erniedrigenden Nischen der Kreidezeit ausharren.
Doch dann war Antarktika am Südpol zur Ruhe gekommen, und die Eiskappe hatte sich langsam ausgebreitet.
Die Tage wurden immer kürzer, und die blutrote Sonne tauchte nur kurz überm Horizont auf. Der Boden gefror. Viele Pflanzenarten starben ab, und die Sporen warteten auf die Rückkehr der kurzen Sommerwärme.
Es fiel kaum Schnee. Streng genommen war der Kontinent großenteils eine Halbwüste: Das bisschen, was an Schnee fiel, kam als harte kristalline Flocken, die sich wie Gestein am Boden ablagerten, bis der Wind sie zu Bänken und Verwehungen zusammen trieb.
Der Schnee war trotz der geringen Menge lebenswichtig für die Höhlengräber.
Diejenigen, die den Sommer und Herbst überlebt hatten, gruben sich in die Schneeverwehungen ein und legten weit verzweigte Tunnelsysteme unter den verharschten oberen Schichten an. Die Tunnel waren Städte mit einem feuchten, milden Klima, deren Wände vom Durchgang vieler kleiner, warmer Körper gehärtet worden waren. Die Luft war vom Geruch warmen feuchten Fells erfüllt. Zwar war es in den Höhlen nicht eben warm, aber die Temperatur fiel auch nie unter den Gefrierpunkt.