Draußen flatterten Auroras durch den sternenklaren Winterhimmel.
Die Leaellynasaura, die Graben die Eier gestohlen hatte, gehörte zu einem überwiegend aus Geschwistern bestehenden Rudel. Sie hatten in einer Gruppe gejagt, die sich um ein dominierendes Brut-Paar geschart hatte. Ehe das Leaellynasaura-Rudel im Winter in die Kaltblütler-Starre fiel, drängte es sich zu einem wärmenden Haufen zusammen.
Die Leaellynasaurae stammten von kleinen, flinken Pflanzen fressenden Dinosauriern ab, die einst in großer Zahl im antarktischen Wald ausgeschwärmt waren. Damals hatten die Leaellynasaurae die Größe eines ausgewachsenen Menschen erreicht. Sie hatten große Augen, die gut an die Dunkelheit der polaren Wälder angepasst waren. Mit der großen Kälte waren die Leaellynasaurae aber klein und dick geworden und hatten sich als Isolierung ein schuppiges Gefieder zugelegt.
Und im Lauf der Jahrmillionen hatten sie auch ihre Vorliebe für Fleisch entdeckt, das mehr Kalorien lieferte.
Als die Temperatur weiter sank, fielen die Mitglieder des Rudels in Bewusstlosigkeit. Der Stoffwechsel wurde drastisch heruntergefahren und war gerade noch so aktiv, dass sie nicht erfroren. Das war eine uralte Strategie, die durch Jahrmillionen des Lebens in diesen Polarregionen entwickelt worden war und sich immer bewährt hatte.
Diesmal aber nicht. Dies war nämlich der kälteste Winter aller Zeiten. Und mitten im dicksten Winter wurde die Gruppe der Leaellynasaurae von einem Sturm überrascht. Der heftige Wind entzog ihnen zu viel Körperwärme. Eis bildete sich im Fleisch der Leaellynasaurae und zerstörte die Struktur der Zellen. Langsam senkten Erfrierungen sich wie kalte Dolche in die kleinen Körper.
Aber die Leaellynasaurae verspürten keinen Schmerz. Sie waren in einen bleiernen, traumlosen Reptilien-Schlaf versunken, der tiefer war als alles, was ein Säugetier je erleben würde, und er leitete unmerklich in den Tod über.
Jedes Jahr wurden die Sommer kürzer und der Wintereinbruch härter. Jedes Frühjahr schob sich die Eiskappe in der Mitte des Kontinents, einem lebensfeindlichen Ort, ein Stück weiter zum Rand vor. Einst hatte es hier Bäume gegeben: Koniferen, Baumfarne und die urtümlichen Podocarps mit schweren Fruchtständen an der Basis. Es war ein Wald gewesen, in dem Noth sich zu Hause gefühlt hätte. Doch nun existierten diese Bäume, die längst von der Kälte gefällt worden waren, nur noch als Kohlenflöze tief unter Grabens Füßen. Es war schon viele Millionen Jahre her, seit Grabens Vorfahren auf Bäume geklettert waren.
Die Primaten von Antarktika hatten sich an die Kälte angepasst. Und sie waren durch die Konkurrenz mit den Dinosauriern an die Wachstumsgrenze gestoßen. Aber sie entwickelten isolierende Schichten aus Fett und Fell, um die Körperwärme zu speichern. Grabens Füße wurden so gekühlt, dass nur ein geringer Temperaturunterschied zum Boden bestand und dadurch kaum Wärme verloren ging. Blut, das von den Füßen in den Körper hinaufgepumpt wurde, strömte durch Blutgefäße mit warmem Blut, das in Gegenrichtung floss. So wurde das abwärts fließende Blut gekühlt, ehe es die Füße erreichte. Das Fett in Beinen und Füßen war von besonderer Qualität: Es bestand aus kurzen Kohlenwasserstoff-Ketten mit einem niedrigen Schmelzpunkt, weil es sich sonst wie Butter im Kühlschrank verhärtet hätte. Und so weiter.
Trotz aller Kälteanpassungen war Graben aber immer noch ein Primat. Sie hatte noch die beweglichen Hände und starken Unterarme ihrer Vorfahren. Und obwohl sie ein viel kleineres Gehirn hatte als ihre Ahnen – in dieser kargen Landschaft war ein großes Gehirn ein teurer Luxus, und die Tiere waren nicht klüger als unbedingt notwendig –, war sie intelligenter als jeder Lemming.
Aber das Klima wurde immer kälter. Und jedes Jahr wurden die restlichen Tiere und Pflanzen in einem immer schmaleren Tundra-Streifen an der Küste zusammengedrängt.
Das Endspiel stand bevor.
Graben rang nach Luft.
In plötzlicher Panik scharrte sie im Schnee über sich und grub sich mit Händen, die eigentlich für das Erklimmen von Bäumen geschaffen waren, durch ein Dach aus Schnee.
Schließlich schob sie sich aus der Höhle in grelles Frühlingslicht. Ein Schwall miefiger Luft entwich hinter ihr und waberte in der Kälte – muffig und mit dem Geruch des Todes geschwängert.
Sie war ein zum Skelett abgemagertes Bündel mit Urin befleckter Haut und Fell in einer weiten unberührten Schneelandschaft. Die Sonne stand so hoch überm Horizont, um wie eine gelbe Laterne an einem purpur-blauen Himmel zu hängen. Der Frühling war also schon weit fortgeschritten. Aber nichts regte sich: keine Vögel, keine Raptoren und es brachen auch keine Allo-Babys aus den Winterhöhlen. Kein anderer Höhlengräber erschien im Schnee; kein einziger Artgenosse folgte ihr.
Sie arbeitete sich die Schneebank hinunter. Sie bewegte sich steif, denn die Gelenke schmerzten. Und sie hatte einen Heißhunger und eine völlig ausgedörrte Kehle. Durch den langen Winterschlaf hatte sie ungefähr ein Viertel der Körpermasse verloren. Und sie zitterte.
Das Zittern kündigte das Versagen der körpereigenen Kälteschutz-Systeme an. Es war die letzte Option, durch Muskelbewegungen Körperwärme zu erzeugen – und sie war auch extrem energieaufwändig. Das Zittern hätte eigentlich nicht sein dürfen.
Etwas stimmte nicht.
Sie erreichte den nackten Erdboden, der das Meer säumte. Der Boden war noch steinhart gefroren. Und trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit wuchs hier noch nichts; Sporen und Samen schlummerten noch immer unter der Erde.
Sie stieß auf eine Gruppe Leaellynasaurae. In der Kälte hatten sie die Glieder und Hälse ineinander verschlungen, sodass sie eine Art gefiederte Skulptur bildeten. Instinktiv presste sie sich in den Schnee.
Aber von den Leaellynasaurae ging keine Gefahr aus. Sie waren tot, in der finalen Umarmung erstarrt. Wenn Graben an ihnen gerührt hätte, wäre das Ensemble umgekippt und die gefrorenen Federn wären abgebrochen wie Eiszapfen.
Sie eilte weiter und überließ die Leaellynasaurae dem Todesschlaf.
Sie erreichte eine kleine Landzunge, von der aus man das Meer überblickte. An dieser Stelle hatte sie schon am Ende des letzten Sommers gestanden und aus der Deckung eines kleinen Farndickichts den Kampf zwischen einem Raptor und einem Frosch beobachtet. Doch nun waren selbst die Sporen des Farns im kahlen Boden eingeschlossen, und es gab nichts zu essen. Vor ihr erstreckte sich das Meer als eine nahtlose weiße Fläche bis zum Horizont. Sie verzagte angesichts der leblosen Geometrie: ein messerscharfer Horizont vor ihr, eine weiße Fläche unter ihr, eine leere blaue Kuppel über ihr.
Nur an der Küste wurde die Eintönigkeit aufgelockert. Hier hatte die anbrandende See das Eis gebrochen, und hier tummelte sich sogar jetzt noch Leben. Graben sah kleine Krustentiere durch die Wasseroberfläche brechen und sich am Plankton laben. Und Quallen, groß und klein, pulsierten in dieser Einöde – durchscheinende, ätherische und zarte Geschöpfe, die in der Dünung des Meeres schwebten.
Selbst hier, an den Extremen der Erde, wimmelte das Meer von Leben, wie es seit Urzeiten gewesen war. Aber es war nichts für Graben dabei.
In dem Maß, wie die globale Abkühlung andauerte, wurde die Umklammerung des Eises mit jedem Jahr stärker. Die einmalige Ökologie aus Tieren und Pflanzen, die auf diesem riesigen isolierten Floß gefangen war, hatte keine Ausweichmöglichkeiten. Und die Evolution vermochte den letztendlichen Sieg des Eises nicht aufzuhalten.
Es war ein grausames Auslöschungs-Ereignis, das vor den Blicken der Welt verborgen hier über Millionen Jahre sich hinzog. Eine komplette Biozönose starb den Kältetod. Nachdem die Tiere und Pflanzen alle verschwunden waren, dehnte die gewaltige Eiskappe im Herzen des Kontinents sich immer weiter aus und schickte Gletscher aus, die sich einen Weg durchs Gestein frästen, bis die leblose Abstraktion des Eises das Meer traf. Obwohl die tief begrabenen Fossilien und Kohlenflöze der Urzeit überdauern würden, blieb keine Spur zurück, aus der man auf die Existenz von Grabens Tundra-Welt und die einzigartigen Lebensformen, die sie bevölkert hatten, zu schließen vermocht hätte.