Mutlos wandte sie sich ab und lief auf der Suche nach Nahrung über den gefrorenen Boden.
KAPITEL 8
Bruchstücke
Nordafrikanische Küste, vor ca. 5 Millionen Jahren
I
Im ersten Licht der Morgenröte wachte Capo in seinem Nest in der Baumkrone auf. Er gähnte herzhaft, wobei die dicken Gaumenzäpfchen zutage traten, und streckte die langen pelzigen Glieder. Dann nahm er die Hoden in die Hand und kratzte sie genüsslich.
Capo hatte gewisse Ähnlichkeit mit einem Schimpansen – aber es gab noch keine Schimpansen auf der Welt. Aber er war immerhin schon ein Menschenaffe. In den langen Jahren seit Streuners Tod hatten die aufblühenden Primaten-Familien sich diversifiziert, und Capos Linie hatte sich vor ungefähr zwanzig Millionen Jahren von den Affen abgespalten. Und doch hatten fünf Millionen Jahre vor dem Aufstieg der Menschen die Menschenaffen ihre beste Zeit schon hinter sich.
Capo schielte in den Himmel. Er war graublau und wolkenlos. Es würde wieder ein langer, heißer und sonniger Tag werden.
Und ein guter Tag. Er rieb sich nachdenklich den Penis. Er hatte die allmorgendliche stramme Erektion. Ein paar der aufmüpfigsten rangniederen Männchen waren vor wenigen Tagen in der Tiefe des Waldes verschwunden. Es dürfte Wochen dauern, bis sie wiederkamen; Wochen relativer Ruhe und Ordnung. Capo hätte also leichtes Spiel.
In der morgendlichen Stille trugen Rufe weit. Wie er so in Gedanken versunken lag, hörte er ein entferntes Brüllen wie das Grollen eines riesigen verwundeten Tiers. Es kam aus westlicher Richtung. Er lauschte für eine Weile, und ihm sträubten sich die Haare bei der Majestät des nicht enden wollenden, verwirrenden Donnerhalls. Der Laut kündete von enormer Macht. Aber der Verursacher war nicht präsent und nicht zu sehen. Der Laut war sein Leben lang im Hintergrund gewesen, unveränderlich und unbegreiflich – und weit genug entfernt, um ihn nicht zu kümmern.
Er verspürte ein nagendes Unbehagen, aber nicht etwa wegen des Geräuschs. Es war vielmehr eine vage Besorgnis, die ihn in solchen nachdenklichen Momenten überkam.
Capo war über vierzig Jahre alt. Am Körper trug er die Narben vieler Kämpfe und kahle Stellen von der endlosen Fellpflege. Er war alt genug und intelligent genug, um sich an viele Jahreszeiten zu erinnern, aber nicht etwa in einer linearen Abfolge, sondern in Streiflichtern und Splittern – wie lebendige Szenen, die man aus einem Film herausgeschnitten und zufällig aneinandergereiht hatte. Und auf einer tiefen Ebene wusste er, dass die Welt nicht mehr so war, wie sie in der Vergangenheit gewesen war. Die Dinge änderten sich, und nicht unbedingt zum Besseren.
Aber er vermochte daran nichts zu ändern.
Träge rollte er sich auf den Bauch. Das Nest war nur ein Gewirr aus dünnen geflochtenen Ästen, die durch sein Gewicht fixiert wurden. Durch die Lücken erkannte er die im Baum verstreute Sippe. Die Primaten nisteten wie Vögel. Mit einem leisen Grunzen entleerte er die Blase. Der Urin schoss gießkannenartig aus dem noch halb erigierten Penis und regnete auf den Baum hinab.
Er spritzte auf Blatt, eins der hochrangigen Weibchen, das auf dem Rücken geschlafen hatte. Ihr Kind klammerte sich am Bauchfell fest. Sie schreckte auf, wischte sich Urin aus dem Gesicht und gab ihren Protest durch einen Schrei kund.
Die Phase des Nachdenkens war vorbei, und die Erektion erschlaffte. Capo setzte sich auf und schwang sich aus dem Nest.
Zeit, an die Arbeit zu gehen. Als großes schwarzbraunes Fellknäuel brach er durch den Baum. Er riss Nester ein, knuffte und trat die Bewohner und führte sich dabei wie ein kreischender Hampelmann auf. Er machte weiter, bis er die Blätter des ganzen Baums zerzaust hatte und sicher war, dass niemand mehr schlief und sich der Präsenz des großen Capo nicht bewusst war.
Er legte eine schöne harte Landung mitten im Nest von Finger hin, einem kräftigen jüngeren Männchen mit einem wachen Verstand und geschickten Fingern. Finger rollte sich schnatternd zusammen und wollte Capo in einer Demutshaltung das Hinterteil entgegenstrecken. Doch der versetzte Finger nur einen gut gezielten Tritt in den Hintern, sodass er kreischend durchs Laub auf den Boden fiel. Es war höchste Zeit, dass Finger eine Lektion bekam; er war für Capos Geschmack nämlich zu fürwitzig geworden.
Schließlich erreichte Capo mit gesträubtem Fell und außer Atem den Erdboden. Er war am Rand einer kleinen Lichtung, in deren Mitte sich ein sumpfiger, verlandeter Teich befand. Er lief im Slalom um die Stämme der äußersten Baumreihe herum, schlug mit den Handflächen auf die Bäume, riss dünne Äste ab und schüttelte sie so heftig, dass das Laub um ihn herum niederging. Und die ganze Zeit kreischte und schrie er.
Finger hatte sich nach dem Sturz wieder aufgerappelt. Leicht humpelnd kroch er in den Schatten einer niedrigen Palme und erholte sich von der Züchtigung durch Capo. Andere Männchen hüpften liebesdienerisch und schreiend um ihn herum. Ein paar Weibchen waren auch schon auf. Sie gingen Capo aus dem Weg und ihren morgendlichen Verrichtungen nach.
Als er die Vorführung beendet hatte, machte Capo Heulen aus, ein Weibchen mit einer besonders schrillen Stimme. Sie hockte an einem Akazienstamm, riss Stücke aus einer Morchel heraus und stopfte sie sich in den Mund. Heulen war noch nicht geschlechtsreif, aber nicht mehr weit davon entfernt. Als Capo die enge Spalte ihres Geschlechts sah, bekam er sofort eine Erektion.
Das Fell war noch immer gesträubt, und er war auch noch etwas außer Atem. Trotzdem stolzierte er zu Heulen hinüber, hob sie an der Hüfte an und drang schnell in sie ein. Ihre Scheide war lustvoll eng, und Capos Gefolgsleute riefen und knurrten, trommelten auf den Boden und feuerten ihn an. Heulen wehrte sich nicht und änderte ihre Haltung, um ihn besser in sich aufzunehmen. Doch während er sie stieß, zupfte sie unbeteiligt weiter an der Morchel herum.
Capo zog sich aus Heulen zurück, bevor er ejakulierte: Dazu war es noch zu früh am Tag. Als Gnadenerweis drehte er seinen hockenden Unterlingen jedoch den Rücken zu und stieß eine Ladung Kot aus, die auf sie spritzte. Dann warf er sich mit verschränkten Armen flach ins Gras und ließ es zu, dass ein paar Günstlinge sich ihm näherten und mit der täglichen Fellpflege begannen.
Solcherart war der große Boss, das Alpha-Männchen, der capo di capi dieser Sippe – der Urahn der Menschheit, der Vorfahr von großen Männern wie Sokrates, Newton und Napoleon – gut in den Tag gestartet.
Sich den Bauch voll schlagen war die nächste Priorität.
Capo nahm einen seiner Untergebenen – Wedel, ein großes, sehniges und nervöses Geschöpf – ins Visier und malträtierte den Kopf der zusammengekauerten Kreatur mit einer Abfolge von Knüffen und Püffen.
Wedel verstand die Botschaft schnell. Er hatte den Auftrag, die Sippe bei der täglichen Suche nach Nahrung und Wasser anzuführen. Wie der Zufall es wollte, schlug er eine östliche Richtung ein, der aufgehenden Sonne entgegen und lief auf einem Pfad hin und her, der in diese Richtung führte. Sein Gang war eine Mischung aus einer ungelenken Fortbewegung auf den Knöcheln und aufrechten Sprints. Er drehte sich mit einem um Zustimmung heischenden Blick zu Capo um.
Für Capo war diese Richtung so gut wie jede andere. Er machte einen Satz, bei dem die großen Füße in den weichen Untergrund einsanken, und folgte Wedel. Der Rest der Sippe formierte sich schnell hinter ihm – Männchen und Weibchen gleichermaßen. Die Jungen klammerten sich an den Bäuchen ihrer Mütter fest.