Dann bekam er doch Angst vor der eigenen Courage, ließ sich wieder auf alle viere fallen und huschte in den schattigen Wald zurück.
Capo versetzte ihm einen derben Schlag auf den Kopf, weil er ein solches Risiko eingegangen war und führte die Sippe wieder in den Wald zurück.
Capo schwang sich auf der Suche nach Früchten und Blüten auf einen Akazienbaum. Capo erklomm ihn schnell. Er wandte einen gleitenden Stil an, bei dem er sich mit den Armen hochzog und mit den Füßen den Baumstamm umklammerte, um sich abzustützen.
Das war eine Leistung, zu der Streuner nicht imstande gewesen wäre – oder irgendein anderer Affe. Menschenaffen wie Capo hatten eine flache Brust, kurze Beine und lange Arme. Indem die Schulterblätter in den Rücken gewandert waren, hatten sie eine größere Beweglichkeit erlangt, die es Capo ermöglichte, mit den Händen über den Kopf zu greifen. Diese Ausstattung war erforderlich, um auf Bäume zu klettern. Wo Streuner den größten Teil des Lebens Äste entlanggelaufen war, war Capo ein Kletterer.
Und diese Neukonstruktion zum Klettern hatte noch einen Nebeneffekt, der in Capos langem, schlankem Körper augenfällig wurde. Durch die neue, senkrecht ausgelegte Knochenstruktur und das Gleichgewichtssystem hatte Capo schon die Anlagen zum aufrechten Gang. Manchmal versuchte er das auch schon auf einem Baum. Er hielt sich an Ästen fest, um das Gleichgewicht zu wahren und griff nach den höchsten Früchten. Und manchmal richtete seine Art sich auch im Freien auf, wie Wedel demonstriert hatte.
Durch die körperliche Umformung waren die Menschenaffen zugleich intelligenter geworden.
In diesen tropischen Gefilden trugen die Bäume selten gleichzeitig Früchte. Und wenn man einen Früchte tragenden Baum fand, musste man unter Umständen weit gehen, bis man zum nächsten gelangte. Deshalb mussten die Menschenaffen einen großen Teil des Tags darauf verwenden, nach den verstreuten Nahrungsquellen zu suchen. Sie gingen allein oder in kleinen Gruppen und sammelten sich dann wieder, um in den Nestern in den Baumkronen zu schlafen. Diese grundlegende Architektur der Nahrungssuche hatte ihr soziales Leben geprägt. Einmal mussten sie mit der Umwelt sehr vertraut sein, wenn sie die Nahrung finden wollten, die sie benötigten.
Und in Anbetracht ihrer Lebensweise waren die Bindungen unter ihnen lose. Sie lebten in ständig wechselnden Verbänden und gingen besondere Beziehungen zu anderen Mitgliedern der Gemeinschaft ein, auch wenn sie sich vielleicht wochenlang nicht sahen. Um sich in einer vielschichtigen, variablen und komplexen Gesellschaft zu orientieren, bedurfte es einer zunehmenden Intelligenz. Wie die Menschenaffen mit ihren Beziehungen jonglierten, erinnerte das an eine Seifenoper – aber es war ein sozialer Mahlstrom, der das sich entwickelnde Bewusstsein schulte.
Nach der richtungweisenden Spaltung der archaischen Anthropoiden-Familie in Menschenaffen und Affen hatten die Menschenaffen sich zu den dominierenden Primaten der Alten Welt entwickelt. Obwohl die schrumpfenden Klimazonen sie in die mittleren Breiten verwiesen hatten, fanden sie reichlich Platz in einem durchgehenden Waldgürtel, der sich um ganz Afrika spannte und sich von China über Eurasien zur Iberischen Halbinsel erstreckte. In diesem grünen Korridor waren die Menschenaffen aus Afrika eingewandert und hatten sich über die Wälder der Alten Welt verbreitet – sie hatten die Proboscidea auf ihrer Wanderung sozusagen begleitet.
Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung gab es über sechzig Menschenaffen-Spezies. Was ihre Körpergröße betraf, hatten sie zwischen einer Katze und einem jungen Elefanten rangiert. Die größten, wie die Riesen, waren Laubesser, die mittelgroßen – wie Capo – lebten von Früchten, und die kleinsten unter einem Kilo oder so waren wie ihre entfernten Vorfahren Insektenfresser: Je kleiner das Tier, desto schneller ist sein Stoffwechsel und desto höhere Ansprüche stellt es an die Qualität der Nahrung. Aber es gab Platz für alle. Es war ein Zeitalter der Menschenaffen gewesen, ein mächtiges anthropoides Reich.
Leider hatte es nicht allzu lang Bestand.
Durch die anhaltende Abkühlung und Austrocknung der Erde waren die einst breiten Waldgürtel zu isolierten Inseln geschrumpft. Durch die gekappten Wald-Verbindungen zwischen Afrika und Eurasien waren die asiatischen Menschenaffen-Populationen isoliert worden. Sie würden sich unabhängig von den Ereignissen in Afrika zum Orang-Utan und seinen Verwandten entwickeln. Die geschrumpften Lebensräume hatten eine Abnahme der Populationen bedingt. Die meisten Menschenaffen-Spezies waren bereits ausgestorben.
Und dann war ein neuer Konkurrent auf den Plan getreten.
Capo gelangte zum Blätterdickicht einer Akazie, von der er wusste, dass sie besonders eifrig Blüten trieb. Jedoch stellte er fest, dass die Äste bereits geplündert waren. Er schob sie auseinander und schaute in ein kleines, erschrockenes schwarzes Gesicht mit einem weißen Fellrand und einem grauen Wuschel auf dem Kopf. Es war ein Affe – wie eine Meerkatze –, dem Saft aus dem Mund tropfte. Er schaute Capo an, kreischte und verschwand blitzartig, ehe Capo zu reagieren vermochte.
Er ruhte sich für eine Weile aus und kratzte sich nachdenklich an der Backe.
Affen waren eine Plage. Ihr großer Vorteil war nämlich, dass sie unreife Früchte zu fressen vermochten. Ihr Körper produzierte ein Enzym, das die giftigen Chemikalien neutralisierte, mit denen die Bäume die Früchte schützten, bis die Samen keimfähig waren. Die Menschenaffen hatten dem nichts entgegenzusetzen. Daher waren die Affen in der Lage, die Bäume schon vor der Ankunft der Menschenaffen leer zu machen. Sie schwärmten sogar ins Grasland aus und ernährten sich von den nussartigen Samen, die es dort gab. Für die Menschenaffen waren die Affen eine genauso harte Konkurrenz, wie die Nagetiere immer gewesen waren.
Hoch über Capos Kopf bewegte sich eine schlanke Gestalt elegant von Ast zu Ast. Es war ein Gibbon. Er schwang sich durch die Baumwipfel und nutzte den Körper als Pendel, um kinetische Energie zu speichern. Dazu pendelte er wie ein Kind auf der Schaukel mit den Beinen, um die Geschwindigkeit zu erhöhen.
Der Körper des Gibbons war eine Art Sonderausführung des ›Langarm-Flachbrust‹-Designs der Menschenaffen. Die Kugelgelenke von Schulter und Handgelenk hatten einen so hohen Freiheitsgrad, dass der Gibbon an den Armen hängend den Körper im Vollkreis zu drehen imstande war. Mit dem geringen Gewicht und der extremen Beweglichkeit vermochte der Gibbon an den äußersten Ästen der höchsten Bäume zu hängen und die Früchte zu erreichen, die sich an den dünnsten Zweigen befanden – und war zugleich vor den Räubern sicher, die auf Bäume kletterten. Durch die Fähigkeit, kopfüber von den Ästen zu hängen, gelangte der Gibbon sogar an Leckereien außerhalb der Reichweite von Menschenaffen, die zu schwer waren, um in solche Höhen zu klettern – und die sogar dem Zugriff der Affen entzogen waren, die nämlich nur auf den Ästen entlangliefen.
Capo schaute zum Gibbon empor. Er beneidete ihn um die Eleganz, Geschwindigkeit und Körperbeherrschung, die er nie erlangen würde. Doch so großartig der Gibbon auch war – er war nicht etwa die Krone der Menschenaffen, sondern ein ›Auslaufmodell‹, das den Konkurrenzkampf mit den Affen verloren hatte und dazu verurteilt war, sein Dasein in ökologischen Nischen zu fristen.
Enttäuscht und hungrig ging Capo weiter.
Schließlich stieß Capo auf eine andere Quelle seiner Leibspeisen, eine Gruppe Ölpalmen. Die Nüsse dieser Bäume hatten ein nahrhaftes, öliges Fleisch, das allerdings von einer besonders harten Schale umschlossen wurde. Damit war es dem Zugriff der meisten Tiere entzogen, sogar für die geschickten Finger der Affen. Nicht aber für Menschenaffen.
Capo ließ ein paar Dutzend Nüsse auf den Boden fallen, dann stieg er hinab. Er sammelte die Nüsse ein, trug sie zu einer ganz bestimmten Akazie und versteckte sie unter einem Haufen getrockneter Palmwedel.