Capo hielt inne und musterte den Wald. Er war überhitzt und Beine und Füße bluteten aus einem Dutzend kleiner Wunden. Dann gab er sich einen Ruck und drang ins grüne Dämmerlicht des Waldes ein.
Der Boden war unter einem Gewirr aus Wurzeln, Ästen, Moos und Laub verborgen. Überall wuchs büschelweise wilder Sellerie. Obwohl es gegen Mittag war, war die Luft hier kühl und feucht. Es war diesig wie bei einem Morgennebel. Die Bäume waren glitschig, und die Flechten und das Moos hinterließen lästige grüne Streifen auf den Handflächen. Die Feuchtigkeit schien sogar durchs Fell zu dringen. Nach der trockenen Salzpfanne genoss er jedoch das tröstliche grüne Geflecht um sich herum und verschlang die Blätter, Früchte und Pilze, derer er habhaft wurde. Und er fühlte sich vor Räubern sicher. Es gab sicherlich nichts, was der hungrigen, müden Horde in diesem grünen Wald gefährlich zu werden vermochte.
Plötzlich sah er direkt vor sich massige schwarzbraune Gestalten. Sie waren durch den grünen Schleier aber nur schemenhaft zu sehen. Er erstarrte.
Ein mächtiger Arm, der dicker war als Capos Schenkel, griff nach einem Ast. Muskeln arbeiteten in einer massigen Schulter, und der Ast wurde mit der gleichen Leichtigkeit zerbrochen, mit der Capo einen Zweig abbrach, um die Zähne zu reinigen. Große Finger rissen Blätter von den Ästen und stopften sie in ein riesiges Maul. Der Kopf arbeitete, als das große Tier kaute: Muskelstränge wirkten auf Kopf und Kiefer gleichzeitig.
Diese Kreatur war ein Menschenaffen-Männchen, wie Capo eins war – aber es war doch nicht wie Capo. Das große Männchen betrachtete die seltsamen, struppigen kleinen Menschenaffen ohne Neugier. Es wirkte mächtig und bedrohlich. Aber es bewegte sich nicht. Das Männchen und ein kleiner Clan aus Weibchen und Kindern saßen nur herum und fraßen das Laub und den wilden Sellerie, der den Waldboden bedeckte.
Das war ein Gorilla: ein entfernter Verwandter von Capo. Seine Art hatte sich schon vor einer Million Jahren von der Hauptlinie der Menschenaffen abgespalten. Diese Trennung war erfolgt, als der Wald sich gelichtet und die in ihm lebenden Populationen isoliert hatte. Nachdem sie in die Gipfelregionen zurückgedrängt worden waren, hatten diese Menschenaffen ihre Ernährung auf Blätter umgestellt, die selbst hier im Überfluss vorhanden waren, und waren so groß geworden, dass sie der Kälte zu widerstehen vermochten. Zugleich hatten sie sich eine eigentümliche Grazie bewahrt und waren in der Lage, sich lautlos durch diesen dichten Wald zu bewegen.
Obwohl Gorilla-Populationen sich später wieder an die Bedingungen im Tiefland anpassten und lernten, auf Bäume zu klettern und sich von Früchten zu ernähren, hatten sie ihren evolutionären Sinn im Grunde schon erfüllt. Sie hatten sich auf ihre jeweiligen Umgebungen spezialisiert und gelernt, sich Nahrungsquellen zu erschließen, die so gut geschützt waren – mit Widerhaken, Stacheln und Dornen –, dass niemand sonst sich dafür interessierte. Sie aßen sogar Nesseln. Dafür hatten sie ein raffiniertes Verfahren entwickelt, bei dem sie Blätter von einem Stiel abrissen, die scharfen Blattränder umklappten und das ganze Paket in den Mund steckten.
Wie sie im idyllischen Bergwald saßen und genüsslich ihre Blätter aßen, würden sie fast unverändert bis ins Menschenzeitalter überleben, wo sie schließlich vom großen Sterben dahingerafft werden sollten.
Als er sich vergewissert hatte, dass die Gorillas keine Gefahr bedeuteten, verzog Capo sich und führte die anderen weiter durch den Wald.
Schließlich trat Capo auf der anderen Seite aus dem Wald heraus.
Sie hatten das trockene Tiefland-Becken überwunden. Als er in südlicher Richtung über das Plateau schaute, das er erreicht hatte, erblickte er ein geröllübersätes Tal, das zu einem tiefer gelegenen Gelände abfiel. Und dort, jenseits des Tals, sah er auch das Land, in das er seine Hoffnung gesetzt hatte: Es lag höher als die Ebene, von der er ausgezogen war, aber mit reichlich Wasser gesegnet. Das Gebiet war mit schimmernden Seen durchsetzt, mit grünem Gras überzogen und mit Waldinseln gesprenkelt. Die schemenhaften Gestalten einer Herde Pflanzenfresser – Proboscidea vielleicht –, die majestätisch über die üppige Ebene wanderten.
Mit Triumphgeheul sprang er über Felsbrocken, trommelte auf den steinigen Boden und schiss explosiv, wobei er die Felsen mit seinem Gestank imprägnierte.
Die Begeisterung von Capos Horde hielt sich jedoch in Grenzen. Alle hatten Hunger und einen brennenden Durst. Capo war selbst erschöpft. Aber er führte trotzdem einen Freudentanz auf; er gehorchte einem gesunden Instinkt, dass jeder Erfolg, und sei er noch so klein, gefeiert werden müsse.
Nun hatte er jedoch eine solche Höhe erreicht, dass dieses ferne Dauer-Grollen aus dem Westen lauter geworden war. Mit verhaltener Neugier drehte Capo sich um und schaute in diese Richtung.
Von dieser hohen Warte aus vermochte er weit zu blicken. In der Ferne machte er eine Turbulenz aus, eine weiße Verwirbelung. Sie schien wie eine wallende Wolke überm Erdboden zu schweben. In Wirklichkeit sah er eine Art Luftspiegelung, ein weit entferntes Bild, das durch die Brechung der sich erwärmenden Luft direkt vor ihm zu stehen schien. Die wallende Wolke war indes real.
Was er da sah, war die Straße von Gibraltar, wo der mächtigste Wasserfall der Geschichte – mit der Energie und dem Volumen von tausend Niagarafällen – kaskadenartig über Klippen stürzte und sich in ein leeres Meeresbecken ergoss. Einst hatte die Ebene, aus der Capo emporgestiegen war, zwei Kilometer tief unter dem Meeresspiegel gelegen. Sie war der Boden des ausgetrockneten Mittelmeers.
Capo war in dem Becken geboren worden, das zwischen den Küsten Afrikas im Süden und der iberischen Halbinsel im Norden lag. Er war auch nicht weit von dem Punkt entfernt, wo ein schlauer Dinosaurier namens Lauscher vor langer Zeit an der Küste von Pangäa gestanden und aufs weite Tethys-Meer hinausgeschaut hatte. Nun hatte Capo das Bassin verlassen und befand sich in Afrika. Doch wenn Lauscher die Geburt von Tethys geschaut hatte, war Capo in gewisser Weise Augenzeuge seines Todes. Als der Meeresspiegel absank, war dieses letzte Fragment von Tethys vor Gibraltar gestaut worden. Das eingeschlossene Meer war verdunstet und hinterließ ein stellenweise fünf Kilometer tiefes Becken, das mit Salzpfannen durchsetzt war.
Durch die Klimaschwankungen stieg der Meeresspiegel aber wieder an, und das Wasser des Atlantiks durchbrach die Barriere von Gibraltar. Nun wurde das Meer wieder aufgefüllt. Capo musste jedoch nicht befürchten, dass eine riesige Flutwelle aus Westen über ihm zusammenschlug, denn nicht einmal tausend Niagarafälle vermochten ein Meer über Nacht aufzufüllen. Das durch die Meerenge von Gibraltar strömende Wasser flutete das Becken allmählich und erschuf mächtige Flüsse. Der alte Meeresboden verwandelte sich in feuchtes Marschland, wo die Vegetation langsam abstarb. Schließlich vereinigten die Flüsse sich und bedeckten den ganzen Boden.
Doch nach jeder Auffüllung sank der Meeresspiegel, und das Mittelmeer verdunstete wieder. Das geschah fünfzehn Mal in einer Million Jahren, der zeitlichen Klammer für Capos kurzes Leben. Der Meeresboden des Mittelmeers erlangte durch die aufeinander folgenden Austrocknungen eine komplexe Geologie mit einer Sandwichstruktur aus Schlamm und Salzpfannen.
Diese Strukturen hatten maßgebliche Auswirkungen auf das Gebiet, in dem Capo lebte – und auf seine Art. Vor der Austrocknung war die Sahara-Region dicht bewaldet und wasserreich gewesen und hatte vielen Affenarten eine Heimat geboten. Durch die Klimapumpe der Austrocknungen und den immer längeren Regenschatten, den der entfernte Himalaja warf, wurde die Sahara jedoch immer trockener. Die alten Wälder starben ab. Und mit ihnen zersplitterten die Affen-Gemeinschaften, wobei jede Teil-Population sich auf eine Reise zu einem neuen evolutionären Schicksal begab – oder in den Untergang.
Aber das Rumoren und Gibraltar waren zu weit entfernt, um irgendeine Bedeutung für Capo zu haben. Er wandte sich ab und stolperte zur Ebene hinab.