Schließlich überschritt er die Grenze zwischen nacktem Gestein und Vegetation. Er genoss das weiche grüne Gras unter den Knöcheln, während er sich zügig fortbewegte. Auch die anderen, die ihm folgten, freuten sich über den Kontrast zum harten leblosen Fels. Sie rollten sich auf dem Boden, streckten sich aus und wickelten sich in die langen Gräser.
Aber noch hatten sie die neue Heimat nicht erreicht. Ein ein paar hundert Meter breiter Abschnitt offener Savanne, mit Dornbüschen bewachsen, trennte sie vom nächsten Wald – und in der Ebene tat sich etwas.
Ein Rudel Hyänen fraß an einem Kadaver. Bei der massigen runden Form hatte es sich vielleicht um ein junges Gomphotherium gehandelt, das einem Chasma zum Opfer gefallen war. Die Hyänen schnappten nacheinander und knurrten sich gegenseitig an, während sie sich über das Fleisch hermachten. Sie hatten die Köpfe in den Bauch der Kreatur gesteckt, und die schlanken Leiber krümmten sich gierig beim Fressen.
Wedel und Finger schlossen zum im Gras kauernden Capo auf. Sie stießen leise Rufe aus, kämmten Capo mechanisch den Rücken und entfernten Staub und Steinchen. Die jüngeren Männchen respektierten seine Autorität noch. Aber Capo spürte ihre Ungeduld. Wie der Rest der Horde waren auch sie nach der unheimlichen Wanderung durch das offene Gelände erschöpft, durstig und hungrig und sehnten sich nach dem Schutz und dem Nahrungsangebot der Bäume. Und das untergrub Capos Autorität über sie. Die Spannung zwischen den drei Männchen war mit Händen zu greifen.
Aber es war eine Konfrontation, die fast lautlos ablief, denn die drei durften ihre Anwesenheit den Hyänen nicht verraten.
Während Capo noch zögerte, ergriff Wedel die Initiative und machte einen, zwei vorsichtige Schritte. Wegen dieses Ungehorsams versetzte Capo ihm einen derben Schlag gegen den Hinterkopf. Wedel fletschte aber nur die Zähne und entzog sich Capos Reichweite.
Die hohen Gräser wogten träge bei Wedels Durchgang, als ob er durch ein Meer aus Vegetation schwämme. Und nun stellte Wedel sich auf die Hinterbeine und schob sich mit Kopf, Schultern und Oberkörper übers Gras, um besser zu sehen. Er war ein schlanker aufrechter Schemen, der wie ein Schössling wirkte.
Die Hyänen waren noch immer mit ihrer fetten Beute zugange. Wedel duckte sich wieder im Gras und setzte den Weg fort.
Schließlich erreichte er die nächste Baumgruppe. Mit einer Mischung aus Verärgerung und Erleichterung sah Capo ihn eine hohe Palme erklimmen. Beine und Arme arbeiteten synchron wie Teile einer gut geölten Maschine. Als Wedel die Palme erklommen hatte, teilte er es den anderen mit einem leisen Ruf mit. Dann pflückte er Nüsse von der Palme und warf sie auf den Boden.
Einer nach dem andern eilten die Menschenaffen unter der Führung von Finger und dem Alpha-Weibchen Blatt durchs Gras auf das Wäldchen zu.
Sie wurden nicht von den Hyänen bedrängt, obwohl einige der Aasfresser die verwundbaren Menschenaffen witterten. Sie hatten das Glück, dass in den blutigen Kalkulationen der kleinen Hyänen-Hirne die Verlockung des unmittelbar verfügbaren Fleisches stärker war als die Versuchung, diese staubigen und zerfleddert wirkenden Primaten anzugreifen.
Capo versuchte das Beste daraus zu machen. Er knuffte und schlug die anderen Männchen, als ob die ganze Sache seine Idee gewesen wäre und er sie auf dieser kurzen Wanderung führte. Die Männchen ließen sich das gefallen, aber er spürte dennoch eine Anspannung bei ihnen, einen subtilen Mangel an Respekt, der ihm Unbehagen bereitete.
Beim Betreten des Waldes schwärmten die Menschenaffen aus.
Capo schob sich durch eine Reihe schlanker junger Bäume und stieß auf einen verlandeten See: eine türkisfarbene Wasseroberfläche, die vom tröstlichen Grün-Braun des Waldes eingerahmt wurde. Er lief zum Ufer, tauchte die Schnauze in die kühle Flüssigkeit und trank.
Als die Menschenaffen den See erreichten, wateten ein paar aufrecht hinein, bis sie hüfthoch im Wasser standen. Dann schöpften sie mit den Händen blaugrüne Algen aus dem Wasser und schluckten sie hinunter: Diese Art der Nahrungsaufnahme war auch einer der Vorzüge des aufrechten Gangs. Ein paar Junge tauchten unter und säuberten das staubverkrustete Fell; dabei kreischten und spritzten sie wie verrückt. Eine Vogelschar, die friedlich in der Mitte des Sees getrieben war, wurde aufgeschreckt und schwang sich mit einem lauten Rauschen in die Lüfte.
Ein paar der jüngeren Männchen hatten sich am Seeufer versammelt, darunter auch Wedel und Finger. Wedel hatte einen Kieselstein gefunden, den er vielleicht als Hammer-Stein zu verwenden mochte, und spielte mit ihm herum. Hin und wieder warfen die Männchen Capo verstohlene Blicke zu. Ihre Körpersprache kündigte eine Verschwörung an.
Capo schürzte die Lippen und spuckte eine Erdbeere aus.
Er hatte eine sehr hohe soziale Intelligenz und wusste, was die jüngeren Männchen gerade dachten. Er hatte sie zwar in Sicherheit gebracht, aber das genügte nicht: Dass er vor der Überwindung dieser letzten grasbewachsenen Hürde gezögert hatte, hatte bei den anderen keinen guten Eindruck gemacht. Um seine Autorität wiederherzustellen, musste er sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Er konnte zum Beispiel ein paar Äste abreißen und am Seeufer entlang stolzieren; das Laub, das Wasser und das Licht wären eine eindrucksvolle Kulisse. Dann würde er schwere Kämpfe bestehen müssen…
Aber vielleicht war jetzt noch nicht die Zeit dafür.
Er beobachtete, wie Mütter vorsichtig ihre Kinder badeten und junge Männchen spielerisch miteinander rangen, während Gliedmaßen und Haut sich von der Hitze und Trockenheit der Salzpfanne erholten. Das hatte noch Zeit – sollten sie sich erst einmal von der Wanderung erholen, ehe sie wieder zur Tagesordnung übergingen.
Zumal er sich im Moment auch nicht in der Lage fühlte, sich auf eine neue Auseinandersetzung einzulassen. Die Glieder schmerzten ihn, die Haut war wund und mit Kratzern und Rissen übersät, und der Magen, der an eine stetige Versorgung mit Nahrung und Wasser gewöhnt war, knurrte wegen der unregelmäßigen Nahrungsaufnahme. Er war müde. Er rieb sich die Augen, gähnte und gestattete sich einen explosiven Rülpser. Capo fand, dass der Ernst des Lebens noch für eine Weile warten konnte. Erst einmal musste er sich ausruhen.
Mit dieser Entschuldigung wandte er sich vom Wasser ab und lief in den Wald.
Er fand einen Kapokbaum, der mit dicken reifen Früchten behängt war. Jedoch war der Kapok mit langen, spitzen Dornen bewehrt, um die Früchte zu schützen. Also riss er zwei glatte Äste vom Baum ab, legte sie sich unter die Füße und umklammerte die Äste mit den Zehen. Dann erklomm er mit den Ästen unter den Füßen den Baum und ging über die Dornen hinweg, als ob sie gar nicht existierten. Das Klettern verlieh ihm neue Spannkraft – dafür war er geschaffen; von ihm aus hätte er in seinem ganzen Leben keinen Fuß mehr auf den Boden setzen müssen.
Als er einen dichten Fruchtstand erreicht hatte, riss er wieder einen Ast ab und legte ihn über die Dornen. Dann setzte er sich darauf und langte zu.
Von hier aus sah er, dass der Wald sich um den Seitenarm eines Flusses zog, der durch diese vegetationsreiche Sahara nach Süden ins Landesinnere strömte. In der Zukunft würde diese Nil-Arterie durch tektonische Verschiebungen ihren Lauf ändern und nach Süden umgeleitet werden, sodass sie die Sahara nicht mehr durchquerte. Schließlich würde der Fluss in Westafrika in die Bucht von Benin münden – die Menschen würden ihn ›Niger‹ nennen: Selbst Flüsse wurden von der Zeit geformt, während wie im Traum das Land sich hob und senkte, während Berge aufgetürmt und abgetragen wurden.
Fürs Erste führte dieser Fluss jedoch als ein grüner Korridor ins Landesinnere. Die Horde konnte diesem Weg in den Wald folgen und würde sich dabei immer weiter von der Küste entfernen…