Выбрать главу

Ein durchdringender Schrei hallte durch den Wald. Es war ein Schrei mit einer einzigen Bedeutung: Hier lauert Gefahr. Capo spie einen Mund voll Früchte aus und kletterte hastig auf den Boden.

Bevor er den See noch erreichte, hatte er das Problem bereits erfasst. Er vermochte sie zu riechen. Und bei genauerem Hinsehen erkannte er auch die Spuren, die sie bei ihrem Durchzug hinterlassen hatten: Schalenfetzen von Früchten, die auch unter diesem Kapok lagen, und Anzeichen von Nestern hoch in den großen Bäumen.

Andere.

Sie sprangen von den Bäumen und brachen aus dem Unterholz. Es waren viele, erstaunlich viele – fünfzig bis sechzig, mehr als Capos Sippe jemals umfasst hatte. Die Männchen kamen ans Ufer. Sie warfen sich mit gesträubtem Fell in wilde Posen, trommelten auf Wurzeln und Äste und sprangen auf den untersten Ästen der Bäume umher.

Da hatten sie so viel auf sich genommen, um hierher zu gelangen und mussten nun feststellen, dass dieser Wald schon besetzt war. Capo wurde das Herz schwer – er hatte versagt.

Doch Capos Horde reagierte. Obwohl sie schwach und das Fell zu nass war, um sich zu sträuben, warfen die Männchen und sogar ein paar Weibchen sich dennoch in Positur. Capo stellte sich geschwind vor seine Horde und warf sich auch in Pose, wobei er seine ganze lange Erfahrung bemühte, um eine möglichst spektakuläre und einschüchternde Show zu bieten.

Die beiden Horden nahmen frontal Aufstellung und bildeten zwei Mauern aus kreischenden und herumhampelnden Menschenaffen. Sie gehörten derselben Spezies an und waren äußerlich auch nicht voneinander zu unterscheiden. Aber sie rochen die Unterschiede: auf der einen Seite den subtilen, vertrauten ›Stallgeruch‹, auf der anderen den Gestank von Fremden. Diese Posen kündeten von einem echten Fremdenhass und transportierten eine unmissverständliche Bedrohung. Das war die Kehrseite der sozialen Bindungen dieser klugen Tiere: Wenn man in eine Gruppe eingebunden war, dann waren alle anderen Feinde, nur weil sie nicht dazu gehörten.

Capo hatte Angst. Ihm wurde nämlich schnell bewusst, dass diese anderen nicht daran dachten, nachzugeben. Stattdessen wurde ihr Gehampel immer wilder, und das große Alpha-Männchen marschierte zielstrebig auf seine Gruppe zu.

Capo wusste, was nun kommen würde. Ein ›totaler‹ Krieg würde es zwar nicht werden. Die Stärksten würde es zuerst erwischen, die Männchen und die hochrangigsten Weibchen, und die Kinder würden vielleicht einen zarten Happen für diese Fremden abgeben. Einer nach dem andern. Es würde ein langsames blutiges Sterben geben, das erst mit dem Tod des Letzten endete. Ein derart systematisches Gemetzel war ein neuer Schrecken für die Welt, ein Schrecken, den von allen Tieren der Erde nur die Menschenaffen zu ersinnen und inszenieren vermochten.

Capo wusste, dass sie hier nicht zu bleiben vermochten. Vielleicht konnten sie weitergehen und die Wanderung über die Ebene fortsetzen; vielleicht würde es Capo doch noch gelingen, seine Horde in einen leeren Wald zu führen, wo sie in Sicherheit waren.

Doch im tiefsten Innern wusste er intuitiv die Wahrheit. In dieser Welt der schrumpfenden Wälder hatten die überlebenden Tiere sich schon in den restlichen Inseln der alten Vegetation zusammengedrängt. Und das war auch der Grund, weshalb die anderen einen so harten Abwehrkampf führten. Sie waren schon zu viele für dieses schrumpfende Wäldchen und hatten selbst keine Ausweichmöglichkeiten mehr.

Hier war ihres Bleibens nicht länger. Sie hatten keine andere Wahl, als zu gehen.

Mit vielen Kratzfüßen und ausgiebigem Astgefuchtel inszenierte er den subtilen Tanz, mit dem er ausdrückte, dass er seine Horde von diesem Ort wegführen wollte, zum Waldrand und zur Savanne zurück. Ein paar Weibchen taten es ihm gleich. Blatt und andere, die von diesen wilden Fremden eingeschüchtert waren und die Ausweglosigkeit ihrer Lage erkannt hatten, sammelten die Kinder ein und traten den Rückzug an. Selbst Wedel, eins der rebellischen jungen Männchen, machte verwirrt kehrt.

Finger wollte das aber nicht akzeptieren.

Er hatte mit einem Hammer-Stein auf eine Luftwurzel geschlagen und seinen Beitrag zum Tohuwabohu geleistet. Nun wandte er sich von den anderen ab und stürzte sich mit einem Hechtsprung auf Capo. Er trat Capo in den Rücken, warf ihn zu Boden und bearbeitete den Kopf des Anführers mit den Fäusten. Dann rollte er sich weg und stürzte sich mit dem gleichen Zorn aufs größte der gegnerischen Männchen. Plötzlich kippte der ohnehin schon schrille Lärm zur Kakophonie, und die Luft wurde vom Gestank nach Blut und in Panik abgesondertem Kot erfüllt.

Capo rollte sich auf den Rücken und setzte sich auf. Der Kopf schmerzte. Die anderen Männchen zogen sich mit Gebrüll und Geschrei zurück.

Finger erging es freilich schlecht. Es war ihm zwar gelungen, das große Männchen zu Boden zu werfen. Doch nun stürzten die anderen sich ins Getümmel und nahmen Finger in die Mangel. Sie zerrten ihn von seinem Gegner weg und nahmen ihn in einen Klammergriff, als ob er ein gefangener Affe wäre; er blutete schon aus vielen Bisswunden. Und dann warfen sie ihn auf den Boden. Seine Schreie wurden bald zu einem in Blut erstickten Gurgeln, und Capo hörte das grässliche Reißen von Fleisch, das Knacken von Knochen und das Reißen von Bändern.

Fingers Attacke war indes eine Art Lackmustest gewesen. Wenn jemand diese anderen hätte angreifen müssen, dann wäre es Capo gewesen. Capo wusste, dass er schon verloren hatte. Er konnte sich glücklich schätzen, wenn er diesen Tag überlebte: Wenn die anderen ihn nicht töteten, dann würden es seine ehemaligen Untergebenen tun.

Trotz der Schande und Niederlage nahm Capo den Sammel-Tanz wieder auf und versuchte seine Horde zum Mitkommen zu bewegen. Mehr vermochte er nicht zu tun.

Doch nicht einmal jetzt reagierten alle. Ein paar spien ihm ihre Angst und Trotz ins Gesicht und schlugen sich in die Büsche, um auf eigene Faust durchzukommen. Er würde sie nie wieder sehen.

Das junge Weibchen Heulen schaute ihre Horde mit vor Angst geweiteten Augen an – und wechselte dann die Seiten. Sie würde zwar Prügel von den anderen Weibchen beziehen, aber vielleicht war sie für die Männchen so attraktiv, dass sie am Leben bleiben durfte. Vor allem dann, wenn sie bei den harten Paarungen, die sie würde erdulden müssen, schnell schwanger wurde.

Diejenigen, die Capo die Treue hielten, setzten sich schließlich in Bewegung und gingen zum Waldrand zurück – doch erst, als Wedel auf Capos Tanz antwortete.

Capo verstand natürlich. Sie folgten Wedel, nicht Capo.

Sie kehrten zum Waldrand zurück, ohne dass sie verfolgt wurden; zumindest fürs Erste nicht. Betrübt und voller Ungewissheit pflückten sie Blätter und Früchte ab.

Es kam Capo schwer an, wieder auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen zu sein. Er bemerkte den blutigen Kadaver des jungen Gomphotheriums, der noch immer dalag. Er sonderte sich von den anderen ab, kletterte auf einen Baum und baute sich ein provisorisches Nest.

Wo Finger nun tot war, wusste er nicht, wer ihm als größter Herausforderer erwachsen würde.

Wedel vielleicht? Möglicherweise vermochte Capo aber eine starke Position zu behaupten, indem er sich mit einem anderen Männchen gegen die anderen verbündete. Er war vielleicht nicht mehr der Ober-Boss, doch hätte er als Königsmacher eine zentrale Stellung inne und würde auch weiterhin die Privilegien der Macht genießen – vor allem Paarungs-Privilegien. Und vielleicht gelang es ihm sogar, auf diese Weise auf Umwegen wieder an die Spitze zu gelangen. Der schlaue Kerl dachte sogar noch weiter und erwog wechselnde Bündnisse und Intrigen…

Seine Gedanken lösten sich auf. Er wurde von der Reise überwältigt, die er gemacht hatte, und von der brutalen Enttäuschung, die an ihrem Ende auf ihn gewartet hatte. Plötzlich schien nichts mehr eine Rolle zu spielen, nicht einmal die raffinierten Machtspiele, mit denen er in der Vergangenheit so viel erreicht hatte.