Wenn Dinosaurier jagten, lief das in aller Stille ab. Sie legten sich auf die Lauer und harrten stumm und reglos aus, bis die Jagd in einem explosiven Gewaltausbruch kulminierte.
Im Vergleich zu den Dinosauriern hatten die Säugetiere aber auch keine schlechten Voraussetzungen. Purga schaute nämlich selbst auf eine Entwicklungsgeschichte von vielen Millionen Jahren zurück und war perfekt an die Nische angepasst, in der sie sich eingerichtet hatte. Trotzdem wurden die Säugetiere durch die harten Tatsachen der Energieökonomie in die kleinen Nischen der Dinosaurier-Welt gedrängt. Insgesamt hatte ein Raubsaurier eine höhere Energieeffizienz als ein Säuger: Dieser Raptor vermochte wie eine Gazelle zu laufen, ruhte aber wie eine Eidechse. Es war diese Kombination aus Energieeffizienz und Kampfkraft, die den Dinosauriern für eine so lange Zeit ihre beherrschende Stellung gesichert hatte.
Der Raptor war vielleicht so etwas wie ein mächtiger Raubvogel. Oder eine Art zweibeiniges Krokodil. Dennoch war er nicht wirklich wie diese Tiere. Er stellte etwas dar, das es auf der Erde des Menschenzeitalters nicht gab, etwas, das keines Menschen Auge je erblicken würde.
Er war eben ein Dinosaurier.
Die bevorzugte Jagdmethode dieses Raptoren bestand darin, aus der Deckung zu brechen und der Beute Wunden zu schlagen, die zwar schwer waren, aber nicht unbedingt tödlich. Die Beute vermochte wohl noch zu fliehen, war aber durch klaffende Wunden in Beinen und Flanken, durch aufgerissene Bäuche oder durchtrennte Sehnen, durch den Blutverlust und Schock geschwächt. Und weil Mundhygiene für den Raptor kein Thema war – er hatte fürchterlichen Mundgeruch –, übertrug er mit jedem Biss ein paar Bakterienkulturen. Dann verfolgte der Raptor die Beute. Manchmal griff er sie erneut an, manchmal folgte er auch nur dem Geruch der stinkenden infizierten Wunden, bis die Beute vor Erschöpfung und Wundbrand verendete.
Heute hatte dieser Raptor indes ganze Arbeit geleistet und das Opfer mit einem Streich niedergestreckt. Er musste nur noch abwarten, bis der Titan so geschwächt war, dass er ihm nicht mehr gefährlich werden konnte. Und dann würde der Saurier die Beute schon einmal bei lebendigem Leib anfressen.
Deshalb ließ er einen so kleinen Happen wie Purga auch links liegen, wo ihn ein so üppiges Festmahl erwartete. Vorsichtig und wachsam verließ sie die Deckung des Farns und huschte über die Flutebene und durch die Schneise der Verwüstung, die die Anotitanen-Herde geschlagen hatte, in die Sicherheit der Bäume.
Zum ersten Mal seit vier Milliarden Jahren spürte der Teufelsschweif Wärme. Fragile Eisskulpturen, die älter waren als die Erde, schmolzen.
Gas strömte aus Spalten in der Kruste. Bald hatte eine mondgroße leuchtende Wolke aus Staub und Gasen den Kometen umhüllt. Der Sonnenwind aus Licht und schnellen Teilchen bündelte das Gas und den Staub hinter dem fallenden Kometen-Kern in Schweife mit einer Länge von Millionen Kilometern. Der Doppelschweif war zwar hauchdünn, aber er reflektierte dennoch das Licht und begann zu leuchten.
Zum ersten Mal schauten leere Augen auf der Erde den sich nähernden Kometen.
Der Teufelsschweif zog weiter seine Bahn, wobei der rotierende, Feuer speiende Kern die Gase mit zunehmender Heftigkeit ausstieß.
III
Wieder ging ein langer, heißer Kreidezeit-Tag ins Land. Purga schlief den ganzen Tag inmitten ihrer neuen Familie. Sie wachte nicht einmal auf, als die Jungen Milch sogen. Der weiche Boden des Baus war mit dem weichen Fell der Primaten bedeckt, und er roch unzweifelhaft nach Purga, ihrem neuen Gefährten und den drei Jungen, die von ihr stammten.
Purgas Gefährte hatte sich selbst keinen Namen gegeben, und Purga gab ihm auch keinen, genauso wenig wie sie sich einen gab. Wenn sie es aber getan hätte – im Bewusstsein, dass er auf keinen Fall der Erste in ihrem Leben war –, dann hätte sie ihn vielleicht Zweiter genannt.
Während Purga schlief, träumte sie. Die Primatengehirne hatten bereits die Größe und Komplexität, die für die mentale Säuberung erforderlich waren. Also träumte sie von Wärme und Dunkelheit, von blitzenden Klauen und Zähnen und von ihrer Mutter, die die Erinnerung ausfüllte.
Purga war, wie alle Säugetiere, ein Warmblüter.
Der tierische Metabolismus basiert auf der langsamen zellulären Verbrennung der Nahrung mit Sauerstoff. Die ersten Tiere, die das Land besiedelten – nach Luft schnappende Fische, die aus trocken gefallenen Wasserläufen krochen und ihre Schwimmblasen als provisorische Lungen nutzten –, hatten sich noch mit Stoffwechselapparaten behelfen müssen, die für das Leben im Wasser ausgelegt waren. Diese ersten Landbewohner hatten noch einen sehr langsamen Metabolismus. Aber der entscheidende Schritt des ›Landgangs‹ war erfolgreich gewesen; ab diesem Zeitpunkt bis in alle Zukunft würde jedes Tier – Säugetiere, Dinosaurier, Krokodile und Vögel, selbst Schlangen und Wale – auf einer Variante desselben uralten ›Vier-Säulen-Bauplans‹ mit vier Beinen, Rückgrat, Rippen, Fingern und Zehen beruhen.
Ungefähr zweihundert Millionen Jahre vor Purgas Geburt hatten jedoch einige Tiere einen neuartigen Metabolismus entwickelt. Es hatte sich dabei um Raubtiere gehandelt, die wegen ihrer Spezialisierung die Nahrung schneller verbrennen mussten, um das Jagdglück zu steigern.
Das hatte eine komplette Neukonstruktion bedeutet. Diese ehrgeizigen Räuber benötigten mehr Nahrung, eine höhere Verdauungsgeschwindigkeit und eine effizientere Entsorgung der Abfallprodukte. All das hatte den Grundumsatz erhöht – sogar im Ruhezustand –, sodass sie die Wärme erzeugenden Organe wie Herz, Nieren, Leber und Gehirn hatten vergrößern müssen. Selbst die Zellfunktionen hatten sich beschleunigt. Zuletzt war noch eine neue, stabile hohe Körpertemperatur eingestellt worden.
Die neuen warmblütigen Körper hatten einen unerwarteten Vorteil. Kaltblüter waren auf Umgebungswärme angewiesen. Warmblüter aber nicht. Sie vermochten auch in der Kühle der Nacht Spitzenleistungen zu erbringen, wenn die Kaltblüter ruhen mussten oder in extremer Hitze, wenn Kaltblüter Schutz suchen mussten. Und sie waren sogar in der Lage, Kaltblüter wie Frösche, kleine Reptilien und Insekten in der Morgen- und Abenddämmerung zu jagen, wo diese Kreaturen langsam und dadurch verwundbar waren.
Aber sie vermochten nicht die Dinosaurier vom Thron zu stoßen; dem stand die überlegene Energieeffizienz der Dinosaurier entgegen.
Ihre Träume wurden jedoch vom wuchtigen Stampfen der Dinosaurier gestört, die tagsüber an der Oberfläche ihren Verrichtungen nachgingen. Der Boden erzitterte wie bei einem Erdbeben, und die Erde bröckelte von den Wänden des Baus und rieselte um die dösende Familie herum nieder. Es war, als ob Armeen von Wolkenkratzern über die Welt marschierten.
Aber es gab nichts, was man dagegen zu tun vermochte. Für Purga waren die Dinosaurier eine Naturgewalt, die sich ihrem Einfluss genauso entzog wie das Wetter. In dieser großen, gefährlichen Welt war der Bau ihr Zuhause.
Die dicke Erdschicht schützte die Primaten vor der Hitze des Tages und schirmte die noch nackten Jungen von der Kühle der Nacht ab: Mutter Erde selbst schützte Purga vor dem Dinosaurier-Wetter.
Und doch hielt sich im Hinterkopf eine vage Erinnerung, eine Ahnung, dass dies nicht ihr erstes Zuhause, nicht ihre erste Familie war – eine unterschwellige Warnung, dass sie auch dieses Glück in einem Moment aus Licht und blitzenden Klauen und Zähnen verlieren konnte.