Michael Wireman wollte nach seiner Pistole langen, wurde aber plötzlich schwindelig, konnte sich gerade noch am Geländer festhalten, den verwundeten Kopf zurückgeworfen, die wäßrigen Augen hoffnungslos auf die Frau gerichtet.
»O Gott! Sie sind ja verletzt!« schrie sie. »Was hat man Ihnen angetan?«
Michael Wiremans Wangen waren über und über blutig. Hautstellen waren nur dort zu sehen, wo Tränen Furchen hineingewaschen hatten. »Feind — Feind —« keuchte er. »Verhörten mich — Folterten … Schlugen mich … Brach aus …«
»Sie armer Junge!« rief die Frau aus. »Diese Brut! Hier — Schnell! Gehen Sie hinein. Verstecken Sie sich im Keller.« Sie zog ihn hinauf, so gut sie konnte, und schob ihn zur Tür. Michael Wireman stolperte dankbar hinein.
Mrs. Lemmon beugte sich aufmerksam über den Teller Milch, zwang sich, nicht auf das aufgeregte Pochen ihres Herzens zu achten. Lockend begann sie die erschrockene Katze zu rufen: »Mutz, Mutz, da komm her! Mutz, Mutz …« Sie seufzte tief auf vor Erleichterung — sie glaubte, das tun zu müssen —, als das Tier hinter der Kiste hervorkam, wo es Schutz gesucht hatte. Der anfängliche Schock war bereits von einer rosigen Vorstellung abgelöst worden. Genauso erging es ihren Heldinnen in den Unterhaltungsromanen.
Sicherlich, diese gewährten hübschen, jungen feindlichen Offizieren Unterschlupf, die von centaurischen Agenten verfolgt wurden. Aber sie war so ausgehungert nach einem Erlebnis, das auch nur die geringste Ähnlichkeit mit diesen Erzählungen hatte, daß sie jetzt aus Angst, eine solche Gelegenheit könnte nie wiederkommen, vollkommen bereit war, das Umgekehrte zu tun. Den Jungen verraten zu haben, hätte ihr einen ruhmvollen Augenblick eingetragen, das ist wahr. Ihn zu beschützen, bedeutete jedoch, ein Verschwörer zu sein, tagelang, ja vielleicht wochenlang! Der Gedanke daran, welche Vergeltung nach diesen Wochen kommen würde, beeinflußte ihre augenblicklichen Entschlüsse überhaupt nicht.
Mrs. Lemmon stand noch immer vorgebeugt, zur leckenden Katze sprechend, als der feindliche Soldat mit schußbereitem Gewehr in den Hof stürmte.
Er gehörte dem MP-Überfallkommando an und war genau nach Plan von einem der verschiedenen strategischen Punkte der Stadt ausgesandt worden. Es ist wahr, seit Jahren schon war nichts vorgefallen, aber dieses Kommando bestand aus zähen, stets streng disziplinierten Veteranen, die nur sehr wenig mit den Erdenbewohnern verkehrten. Dieser Mann war typisch hart, typisch entschlossen. Er wußte, daß es seine Aufgabe war, ohne Rücksicht auf eigene Verluste den Verbrecher aufzuspüren. Mit einem Sprung war er mitten im Hof, duckte sich, hob das Gewehr, bereit auf den ersten Menschen zu feuern, der sich bewegte.
Die Katze jaulte auf und lief wieder weg. Entrüstet richtete sich die Frau auf, wodurch sie beinah das Feuer auf sich gezogen hätte. Michael Wireman, in derselben Situation, hätte wahrscheinlich schießen müssen.
Der Soldat warf einen prüfenden Blick in die Runde. Hätte er irgendeinen Grund gehabt anzunehmen, daß sich der Gesuchte hier versteckthielt, oder wäre das im ersten oder zweiten Jahr der Besatzung passiert, so hätte er genauer nachgesehen. Aber jetzt tat er es nicht. »Fast hätte ich Sie erschossen, wissen Sie das?« brummte er zur harmlosen Frau und lief weiter.
Mit nassen, zusammengekniffenen Augen schaute Mrs. Lemmon ihm nach. Es schien ihr, als hätte sie es bereits immer gewußt, daß diese Fremden schlecht waren.
6
Da war ein kleiner Waschraum — ein schmutziger, rostfleckiger, unangenehm riechender Platz — vor dem unordentlichen Keller. Michael Wireman ging zum Waschbecken und wischte und zog mit zusammengepreßten Lippen die klebrige Kruste von den Wangen und der Stirn. Wie er nun sah, war die Stirnwunde so groß, daß sie wohl oder übel genäht werden mußte. Um die Augen hatte er enorme, blutunterlaufene Quetschungen erlitten. Das gebrochene Nasenbein schmerzte.
Er starrte sich im stellenweise blinden Spiegel an. Mein Gott, dachte er, was habe ich mir da angetan? Weshalb?
Gäbe es Gerechtigkeit auf dieser Welt, dachte er, so dürfte ich jetzt nicht hier in relativer Sicherheit sein. Die Frau hätte mich nicht einlassen dürfen, der Garagen-Korporal hätte in der Lage sein müssen, mich gefangenzunehmen, und, was am wichtigsten ist, der junge feindliche Wachsoldat hätte nicht sterben dürfen.
Welch unvorstellbare Regeln herrschten in einem Universum, in dem ein Mann mit gutem Willen und edlen Vorsätzen zum Mörder werden konnte? Wer hatte entschieden, daß Michael Wiremans Flucht das Leben eines anderen Menschen wert war?
Es schien Michael Wireman nur zu gerecht, daß er durch beinahe untragbare Qualen gestraft werden sollte. Gierig war er auf den Korridor gestürzt, wie ein Räuber, und das kam ihm jetzt so niederträchtig vor, so selbstsüchtig, daß er es mit einer vernünftigen Welt nicht in Einklang bringen konnte.
Was hatte ihn dazu berechtigt, ein intelligentes menschliches Wesen zu überfallen? Er hatte ihm Leben und Schicksal geraubt. Und wofür? Damit Michael Wireman noch eine Weile frei herumlaufen konnte? Wer war Michael Wireman, daß er diese Art von Preis verdiente? Und diese Art der Verdammnis?
Beklommenen Herzens durchsuchte er die dürftigen Erste-Hilfe-Vorräte im Schrank. Er wußte, daß die Fremden in Kürze ihre Bemühungen um seine sofortige Gefangennahme einstellen und folgern würden, daß er Unterschlupf gefunden hatte. Sie würden mit der langsamen, systematischen Suche anfangen, die ihn unweigerlich früher oder später zutage bringen mußte, wenn er so nahe dem Hauptquartier blieb, von wo aus die Suche starten würde.
Was nun? schrie es in seinen Gedanken. Wo machte ich den ersten Fehler in dieser Kette schrecklicher Irrtümer?
Ein weniger leidenschaftlicher, stabilerer Mensch als Michael Wireman hätte es nach und nach herausbekommen. Einem weniger analytischen Menschen wäre es gleichgültig gewesen. Beinahe jeder Mensch, außer Michael Wireman, wäre zu irgendeiner Lösung gelangt, oder hätte geglaubt, keine zu brauchen. Aber alle diese Menschen wären nie in die Lage gekommen, in der Michael Wireman sich jetzt befand.
Dort unten im Waschraum war Michael Wireman nahe daran, sich zu ergeben. Er hätte es tun können, und die Welt hätte nichts davon erfahren. Es gab sicher Tausende von Menschen, die im Lauf der Weltgeschichte auf solche Augenblicke gestoßen waren und sie größtenteils mit lebenslanger Passivität bezahlt hatten.
Automatisch begann er sich zu verarzten. Er stopfte Watte in die Nasenlöcher und verband den verletzten Finger. Dann bepinselte er die Ränder der blutenden Stirnwunde mit Jod und klebte rasch ein Heftpflaster darüber. Es war das beste, was er tun konnte, aber das Pflaster löste sich immer wieder. Wiederholt trocknete er die Haut ab und legte den Verband so schnell wie möglich an, so daß es ihm schließlich doch gelang, etwas Haltbares zustandezubringen. Es schaute sehr laienhaft aus, aber jetzt konnte er wenigstens sein Gesicht reinigen. Unversorgt war nur noch die zerbrochene Rippe. Er zog gerade das fleckige Uniformhemd aus, als er schüchternes Klopfen an der Tür hörte.
»Ja?« Seine näselnde Stimme überraschte ihn.
»Sind Sie es, da drinnen?« fragte die Frau durch die Tür. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja.« Was sollte er mit der Frau machen? Wie lange konnte man sich auf sie verlassen?
»Kann ich Ihnen helfen?«
Hilfe? Daran hatte er gar nicht gedacht. Er fühlte sich noch immer vollkommen allein. »Ach ja, haben Sie bitte irgendwo eine Rolle Heftpflaster?«
»Eine Schachtel mit Bandagen steht im Arzneien-Schrank«, schlug sie vor.
»Die taugen leider nicht.« Er öffnete die Waschraumtür, und sie trat hastig zurück. »Ich glaube, ich habe eine gebrochene Rippe.«
»Oh! O Gott!«