Ihre theatralischen Reaktionen kamen ihm verdächtig vor. Was würde sie unternehmen? Ihn einige Zeit hierbehalten und dann gegen eine Belohnung ausliefern?
Ihre Augen leuchteten auf. »Ich werde in die Drogerie gehen und welches kaufen! Sie ist gar nicht weit weg.«
»Nein!« kam es automatisch und heftig aus ihm heraus. »Sie werden —« Er unterbrach sich. »Haben Sie ein Isolierband?«
»O ja! Das ist nämlich ein sehr altes Gebäude. Sie werden es bald abreißen. Die Rohre sind ständig undicht. Ich hole es.«
»Danke.« In diesem Augenblick wollte er sie auf keinen Fall daran erinnern, daß sie sich in einer gesetzeswidrigen Lage befand. Man würde natürlich die Drogerien nach Käufern von Verbandzeug befragen; sicherlich hatten sie Blutspuren im Autowrack gefunden.
Die Frau ging schnell fort, noch ehe er sich im klaren war, ob er sie überhaupt aus seinem Blickfeld lassen durfte.
Sobald sie gegangen war, fühlte er sich wieder allein. In diesem muffigen, kleinen Raum, in dem man ihn ohne weiteres hätte niederschießen können, wurde ihm bewußt, daß sein Leben von einer Frau abhing, die vollkommen unzuverlässig war und die außerhalb seiner Kontrolle stand.
Der Gedanke erschreckte ihn nicht. Er war nur entrüstet: über den Zustand der Welt, in der ein Leben Laune und Hysterie preisgegeben war, in der Lügen Leben retten und Wahrheiten Leben zerstören konnten.
Die Frau klopfte wieder zaghaft an der Tür. »Ich — ich habe es gefunden. Sind Sie noch da?«
»Ja.« Er öffnete die Tür und nahm das Band. »Würden Sie mir bitte helfen?« Er hob die Arme und sie begann schüchtern, das Band fest um seine bläuliche Brust zu wickeln, während er sich langsam drehte.
Da es wichtig für ihn war, diese Person so gut wie möglich zu kennen, studierte er sorgfältig ihr Gesicht. Er sah einen zu symmetrischen Rougefleck auf jeder Wange, den Lippenstift auf den welken Lippen, Puder über der trockenen, runzeligen Haut. Ihr Haar war bläulich getönt worden, und das überraschte ihn. Aber nachdem alles andere an ihr sorgfältig konventionell aussah, nahm er an, daß dies wahrscheinlich bei den Frauen auf der Erde üblich war.
Sie waren ja jetzt abhängig voneinander. Aber er war besser ausgerüstet, vor der feindlichen Gerechtigkeit zu fliehen als sie. Deshalb fühlte er sich für sie verantwortlich.
Während dieser ganzen Zeit hatte er sich ständig langsam gedreht und sie betrachtet, wenn er ihr zugewandt stand. Nie hatte er bemerkt, daß sie ihn angeschaut hätte. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt seinen Quetschungen: sie tat übertrieben schreckerfüllt, wie in einem billigen Drama. Er überlegte, ob in einem Winkel ihrer Gedanken nicht die Vorstellung einer versteckten Kamera nistete, die jede ihrer Bewegungen aufnehmen könnte. Diese theatralischen Manieren verbargen fast zur Gänze die tatsächlich empfundene Übelkeit. Aber sicher tat sie das alles unbewußt.
Das Band war aus. Er blieb stehen und preßte das letzte Ende nieder. Er spannte die Brust, um den Sitz des Isolierbandes zu prüfen. Seine Augen starrten noch immer auf die Frau, mit den Gedanken war er aber schon ganz woanders.
Waren seine Schlußfolgerungen richtig, so wurde dieses Universum nicht logisch regiert. Wenn er »logisch« zu sich sagte, so meinte er damit den Triumph des Rechtes über das Unrecht, die Belohnung von Treue und guten Taten, die Existenz wahrer Gerechtigkeit irgendwo in der Maschinerie des Universums. Einer Gerechtigkeit, die allen das gab, was sie verdienten.
Er überlegte, wieso jene intelligenten, reifen Menschen die Vorstellung in ihm wach werden ließen, daß Erfolg ein vorbereiteter Lohn war und daß Gerechtigkeit den Zahnrädern irgendeines metaphysischen Verkaufsautomaten gleichkam, der, gespeist mit dem richtigen Betrag von Mut, Treue und Güte, die verdiente Belohnung auswerfen würde.
Es fiel ihm nicht ein, daß ein geschlagenes Volk an die Wiederherstellung vergangener Herrlichkeiten glaubte, wenn schon nicht für sich selbst, so doch für seine Kinder. Die Menschheit wird nie »genug« schreien, sondern auf die große Gegenrevolution von morgen warten, die sie schon hinter dem Horizont sieht, und die kommen muß, so sicher wie das Morgengrauen.
Michael Wireman überlegte das alles ganz genau, als er viel älter war, aber in diesem Keller hatte er nicht die Zeit dazu. Er fühlte, welch große Veränderungen in ihm vorgingen. Aber wie ein Mensch, dem sich unerwartet ein großartiges Feuerwerk darbietet, war er so gefangengenommen von den aufsteigenden Raketen und zischenden Geräuschen, daß er nicht nachdachte, wie man wohl das Sprengpulver hergestellt hatte. Er konnte sich auch nicht lange genug losreißen, um die Entstehung der Zündschnur zu verfolgen, die in dunklen Jahren gewunden wurde.
Er erinnerte sich dort unten im Keller lediglich an seine Mutter, die ihm Geschichten aus Märchenbüchern vorgelesen und ihm über die gute alte Zeit auf der Erde erzählt hatte.
Das alles brachte ihn so durcheinander, daß er ein finsteres Gesicht machte, als wäre er schrecklich zornig.
»Oh!« sagte Mrs. Lemmon erschrocken. »Sie sind nicht so jung wie ich dachte.« Verwirrt stammelte sie: »Ich meine, ich dachte, Sie wären ein Knabe …«
Das verdutzte ihn. Wie die meisten Menschen hatte auch er eine Vorstellung von sich, die mit seiner tatsächlichen Erscheinung nur beiläufig übereinstimmte, die aber sehr viel zur Einschätzung der eigenen Persönlichkeit beitrug.
Er erinnerte sich, zum Beispiel, an alle Gesichter, als hätte er zu ihnen aufgeschaut, obwohl er tatsächlich größer als vier Fünftel der Leute war, mit denen er zusammenkam. Ähnlich verhielt es sich mit seinem Gesicht, das er als Karikatur sah: mit großen runden Ohren und dem spitzen Kinn, während Nase, Augen und Mund im Hintergrund verschwanden. Ohne diese beiden eindrucksvollen Merkmale hätte er sich wahrscheinlich schon lange einen Bart, eine charakteristische Pfeife oder irgendeine andere Etikette zugelegt — nicht als Handelsmarke für andere, sondern als Erkennungsmerkmal für sich selbst.
Sich nun sagen lassen zu müssen von dieser Frau …
»Verzeihen Sie, wie heißen Sie nur?« fragte er.
»Nun — nun, Mrs. Evelyn Lemmon.«
»Danke.« Sich nun von dieser Frau, Mrs. Lemmon, sagen lassen zu müssen, daß sie an seinen Ohren und an seinem Kinn gesehen hatte, daß er nicht der Knabe war, für den sie ihn gehalten hatte, war ein Schock. Außer, sein Gesicht wies mehr als nur das auf?
Was hatte sie gesehen? Vielleicht war es die verärgerte, finstere Miene gewesen. Und war das ein Ausdruck, den Kinder ihrer Meinung nach nicht haben konnten? Sogar die jüngsten Kinder schauen finster und werden zornig. Aber vielleicht nicht ganz genau so?
Nun gut. Das klang vernünftig. Also war ein erwachsener Mensch zum Unterschied vom jugendlichen Jemand, der herausgefunden hatte, daß aus irgendeinem Grund alles, was man ihm als Kind über die Welt erzählt hatte, ein Pack Lügen war. Und dieser spezielle Zorn, zusammengesetzt aus Entrüstung und Enttäuschung, gehärtet durch die demütigende Erinnerung an all die dummen, auf diesen Lügen aufgebauten Taten: war es der, der sich in die Gesichter erwachsener Menschen eingegraben hatte und ihnen einen Ausdruck verlieh, Reife genannt? War dieser Zorn die unausgesprochene Losung für alle, die die unwahre Welt der Kindheit verließen?
Mrs. Lemmon hatte ihn die ganze Zeit über angeschaut, während der er sie ignorierte. Sie wurde immer unsicherer und auch ungeduldig. »Kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein?«
»Wie? Ach so — nein, noch nicht, nein«, sagte er geistesabwesend. Er hatte keinen Plan. Er war beschäftigt.
Für einen anders veranlagten Menschen wäre dieses Thema nun zu Ende gewesen. Er hätte vielleicht gefühlt, daß da nichts anderes zu machen war, als sich in dieser Welt, wie sie auch sein mochte, niederzulassen und das Beste daraus zu machen. Oder er wäre zur Erkenntnis gekommen, daß irgendwo eine böse Macht existiert, die die Welt vom guten Weg abgebracht hatte. Dann hätte er ausziehen können, um so viel wie möglich dieses Bösen zu zerstören oder sich dagegen zu wappnen.