Deshalb wollte sie von vorn anfangen, wenn schon nicht von dem Anfang, so doch von irgendeinem Anfang. Sie wollte von selbst gehen und nicht hinausgeworfen werden, sie wollte selbst handeln und nicht von anderen dazu genötigt werden — so gut sie es eben vermochte.
Einmal sagte sie zu Michael Wireman: »Ich habe gewußt, daß es wirklich Menschen wie Sie gibt, und deshalb diese zurechtgemachten Romane über Menschen wie Sie gelesen.« Erst viel später erkannte er den Sinn dieser scheuen Erklärung.
Michael Wireman hatte jetzt keine Zeit mehr nachzudenken, da er handeln mußte. Er konnte sich nicht länger den Luxus leisten, darauf zu warten, daß ihm andere Freiheit oder Tod brachten.
»Aber wie sollen wir entkommen?« fragte Mrs. Lemmon zitternd.
»Ich weiß …« Beinahe hätte er gesagt: »Ich weiß nicht.« Aber das hätte ihr Vertrauen in ihn erschüttert, was für beide nicht gut gewesen wäre.
Und ist das der einzige Grund? dachte er. Bin ich nicht vielleicht eitel darauf, ihr Führer zu sein?
Das erinnerte ihn an Franz Hammil und war etwas zum Nachdenken, nicht jetzt, aber später, zum Nachdenken und Prüfen. Am Anfang gäbe es bestimmt eine Menge Zweifel, die zu beseitigen er jedes gesprochene Wort und jede Tat auf ihren Gehalt an Egoismus würde untersuchen müssen. Vorläufig jedoch sagte er zu sich: »Glaube nicht, daß es unmöglich sein wird.«
Aber wie sollte er mit ihr fliehen, und wie einen Plan zurechtlegen, ohne ihr zu zeigen, daß Ideen nicht wie Blitze in seinem Gehirn aufzuckten, wie sie es von ihm erwartete?
Das brachte ihn auf einen neuen und originellen Trick. »Betrachten wir einmal die Situation«, sagte er mit freundlicher Pedanterie, als nähme er sich absichtlich Zeit, sie zu unterrichten. Dankbar sah er, wie sie entzückt nickte.
»Nun denn, nachdem wir damit rechnen können, daß die Fremden in diesen Belangen gründlich erfahren sind, bedeutet ›Flucht‹ buchstäblich das Verlassen der Nachbarschaft und der Stadt. Um das tun zu können brauchen wir ein Transportmittel.«
»Mein Lieferwagen!« rief Mrs. Lemmon erfreut. »Einige meiner Kunden wohnen weiter weg. Der Junge fährt die Route jeden Morgen und stellt den Wagen dann vor dem Geschäft ab, während er zu Mittag ißt. Der Wagen ist jetzt da.«
Michael Wireman nickte. »Sehr gut. Nun, was hält uns davon ab, einfach hinaufzugehen und wegzufahren? Die Kontrollpunkte.«
Ganz klar. »Wonach halten die Soldaten dort Ausschau? Nach einem schwerverletzten Mann, der wahrscheinlich noch die gestohlene Uniform trägt.« Andere Kleider wären zwar auch kein Paß, aber die Uniform wäre das Todesurteil. Michael Wireman schaute um sich. Welche Kleidungsstücke gab es in einer Konditorei?
»Haben Sie Angestellte?« fragte er.
»Zwei Mädchen.«
»Und einen Fahrer?«
»Nein.«
»Koch?«
»Den Konditor …«
»Stellen Sie die Arbeitskleidung?«
»Ja.«
»Ich brauche eine.«
»Oh, aber sie wäre Ihnen viel zu groß!«
Wie ließe sich das ändern? Einnähen würde nicht viel helfen — und dann wäre sie auch ganz sauber und sähe gar nicht gebraucht aus. Ins Vertrauen konnte er den Mann nicht ziehen, denn zu viele Eingeweihte könnten schaden. Zu viele Köche verderben ja bekanntlich den Brei.
Aber er brauchte andere Kleider; da mußte die frische Arbeitskleidung des Konditors eben auch recht sein.
»Wir werden sehen«, sagte er in einem Ton, als wüßte er es bereits, übersah jedoch nicht den leisen Zweifel in Mrs. Lemmons Gesicht. »Nun — der kritische Punkt wird meine körperliche Verfassung sein, richtig?«
Sie nickte, während er überlegte, wie es weitergehen sollte. Er konnte doch nicht die Nase verdecken, oder den Rest seines Gesichts.
»Nun, mein körperlicher Zustand, was wissen sie darüber? Sie …« Und hier, vielleicht, kam ihm der einzige blitzartige Einfall während des ganzen Gedankengangs. »Sie wissen, daß meine Verletzungen einige Stunden alt sind. Neue Unglücksfälle werden sie daher nicht überprüfen.« Michael Wireman war ehrlich überrascht, wie viel durch einfaches Zerlegen einer Situation gewonnen werden konnte.
»Folgendes wird passieren: Sie, Mrs. Lemmon, werden auf die Straße laufen und um Hilfe rufen. In Ihrer Backstube wird es vorher angemessenen Lärm und Rauch geben, Ihr Ofen wird danach aussehen, als wäre er explodiert. Soldaten vom nächsten Kontrollpunkt werden kommen, oder, was wahrscheinlicher ist, ein Polizist. Bewußtlos in der Küche liegend, werden sie mich finden, in der größtenteils verbrannten Kleidung des Konditors. Den echten Konditor werden sie nicht zu sehen bekommen — der wird hier unten sein. Nötigenfalls mit einem Knebel im Mund. Und sie werden weder Feuer noch ernsthaften Schaden vorfinden, so daß sie also keinen Grund haben werden, das Zimmer auszuräumen und nach weiteren Gefahrenmomenten zu untersuchen. Aber mir wird die Ofentür ausgerechnet ins Gesicht und auf die Brust gefallen sein, und sie werden mich ins Spital bringen müssen.
Nun …« Bis jetzt war alles recht gut gegangen. Plötzlich jedoch mußte er aufhören, um einige Informationen einzuholen.
»Geben die Fremden Identitätskarten an die allgemeine Bevölkerung aus oder nur an ihre Verwaltungsangestellten? Etwas mit einer Personenbeschreibung, einer Fotografie, Fingerabdrücken und Amtssiegel?«
»Früher — früher war es üblich. Aber seit der letzten Ausgabe sind schon Jahre vergangen. Viele haben diese Karten bereits verloren und keinen Ersatz dafür erhalten. Auch neue werden nicht mehr ausgestellt.«
»Gut. Dann werde ich also die Brieftasche des Konditors bei mir haben, in der kein I-Ausweis sein wird, sondern nur die Sozialversicherungskarte und seine anderen nützlichen Papiere.
Man wird einen Rettungswagen rufen. Fahren Sie hinterher, damit Sie im Spital alles arrangieren und die nötigen Formulare unterschreiben können. Passen Sie auf, daß nur Sie mit den maßgebenden Leuten sprechen, die mit der Ambulanz kommen, und daß keiner Ihrer Angestellten den Mann genau sehen kann, den die Sanitäter aus der Küche tragen. Auf dem Weg zum Krankenhaus kaufen Sie mir bitte Zivilkleider, die Sie in eine Tasche stecken und mir aufs Zimmer bringen lassen. Veranlassen Sie, daß ich ein Privatzimmer bekomme.«
Plötzlich lächelte er, denn er wurde sich bewußt, daß er sie mit seinen rasch aufeinanderfolgenden Anordnungen förmlich überschüttete. »Glauben Sie, daß Sie das alles schaffen werden? Gut!
Nun. Sobald sie meine Knochen in Ordnung gebracht und mir die Wunde genäht haben, werde ich um meine Entlassung bitten. Ich möchte einen ganz korrekten Entlassungsschein vom Krankenhaus. Sie könnten Verdacht schöpfen, würde ich einfach verschwinden. Ich sehe keinen Grund, warum sie mir Vollnarkose geben sollten, und so müßte ich bald fertig sein.
Sollte ich aber über Nacht dort bleiben, würde das die Angelegenheit komplizieren — natürlich nicht, wenn Ihr echter Konditor nicht herauskommt. Glauben Sie, daß Sie ihn hier unten so lange einsperren können? Jedes Mittel ist recht, solange es hilft.«
»Ja — ich — natürlich. Sicherlich.«
»Gut. Warten Sie vor dem Spital noch eine halbe Stunde, nachdem man Ihnen gesagt hat, daß meine Verletzungen versorgt sind. Warten Sie auf der linken Seite des Gebäudes. Parken Sie auf der ersten Straße links. Sehen Sie mich nicht, so fahren Sie hierher zurück. Vergewissern Sie sich, daß der Konditor noch im Keller ist und kommen Sie dann morgens wieder zum Krankenhaus. Versuchen Sie nicht, mich telefonisch zu erreichen. Warten Sie einfach und machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde kommen.« Er erachtete es für unnötig, einen Alternativ-Plan für sich zurechtzulegen, für den Fall, daß im Krankenhaus nicht alles glatt ginge.