»Bin ich bis etwa neun Uhr dreißig noch nicht draußen, steigen Sie in den Wagen und fahren in die Berge. Die Freiheitskämpfer werden Ihnen nicht sehr zusagen, aber in etwa zwei Wochen werden andere Leute kommen, die Sie recht zivilisiert finden werden.«
Das C.S.O.-Bündnis mit Hammil. Michael Wireman verzog den Mund. Welche Welt würde Hammil aus der Erde machen?
Es würde einige planlose Kämpfe geben. Newsted und Ladislas würden Hammil in Aktion bringen, aber sie könnten nicht mehr aus ihm herausholen, als da war. Der Feind wußte, was er zu erwarten hatte. Zwei Kämpfe, vielleicht, und Hammil wäre geschlagen, die Freiheitskämpfer wären wieder einmal zerstreut, und die C.S.O. würde abziehen.
Welche Welt würde Hammil aus der Erde machen?
Eine gefestigte feindliche Welt, mit starken Besatzungstruppen und laufenden Kontrollen der Loyalität des Volkes. Und was würde aus Mrs. Lemmon werden?
»Aber — aber wohin werden wir fahren, wenn alles in Ordnung geht?« fragte Mrs. Lemmon.
»Wohin?« Nun ja — wohin, und was tun? »Nun«, sagte er seufzend, »ich glaube, es gibt keine andere Möglichkeit als die Berge, nicht wahr?«
In Gedanken versunken wandte er seinen Blick von Mrs. Lemmon ab. Er erinnerte sich, daß er erst heute morgen Hobart vorgeschwärmt hatte, wie leicht es wäre, Hammil zu stürzen. War es wirklich so einfach? Die ganze Welt? Zu planen, zur rechten Zeit am rechten Platz zu stehen, richtig zu handeln und alles würde in Ordnung kommen? Warum dann die ganze Aufregung?
Morgens kam er aus dem Krankenhaus, in der Hand die leere Tasche, bekleidet mit dem schlechtsitzenden Arbeitsanzug, den Mrs. Lemmon gekauft hatte. Er schlenderte die Straße hinunter, bis er zum Lieferwagen kam. Sie saß drinnen, nervös an den Lippen kauend und übernächtig aussehend.
Hinter einer Maske fachmännisch angelegten Verbandes lächelte er sie an. »Nun, fahren wir, Tante Evelyn«, sagte er fröhlich. »Auf zu meiner Kusine Francis nach Stroudsburg, wo ich mich vom Unfall erholen werde.«
Es war ein wunderbarer Morgen. Der Sonnenschein und seine gute Laune würden sich bald auf sie auswirken. Offensichtlich war alles sehr anstrengend für sie gewesen und sie brauchte jede nur mögliche Unterstützung von seiner Seite. »Soll ich fahren? Dieser Wagen hat keine Servo-Steuerung, nicht wahr?« Er setzte sich hinters Lenkrad und studierte sorgfältig die Instrumente, bevor er startete.
»Der Konditor wartet unten im Keller bis Mittag«, sagte sie mit müder aber stolzer Stimme. »Dann wird er sich von seinen Fesseln befreien — ich lockerte ihm die Knoten — und mich als Verräterin anzeigen. Er bat mich, Ihnen auszurichten, Sie mögen sich seiner erinnern, wenn Sie nach Philadelphia zurückkommen.«
»Das haben Sie ausgezeichnet gemacht«, sagte er dankbar. Er war überrascht und erfreut, daß sie alles so sauber erledigt hatte; abgesehen davon, daß sie die Zeit zu knapp bemessen hatte. Er hätte sich sonst Sorgen um den Konditor gemacht, der da gefesselt und geknebelt weiß Gott wann entdeckt worden wäre.
»Aber was erzählten sie ihm denn, um Himmels willen, daß er so zu uns hält? Schließlich fiel ich ja rücklings über ihn her, versetzte ihm einen Schlag auf den Kopf, und er wachte erst wieder zum Bündel verschnürt dort unten im Keller auf …«
»Ich klärte ihn über Sie auf«, sagte Mrs. Lemmon einfach. »Daß Sie in die Berge fahren und dort alles organisieren, daß Sie dann zurückkommen und die Fremden hinauswerfen würden. Das werden Sie doch tun, nicht wahr? Verdienen die Fremden das nicht, nach alledem, was sie Ihnen angetan haben?«
Michael Wireman blinzelte. Es fiel ihm nicht ein, daß für Mrs. Lemmon die Fäden der Handlung ganz selbstverständlich von A nach B liefen, daß Ungerechtigkeit immer bestraft würde. Und angenommen er tat, was er nun tun mußte, könnte es sich je als falsch herausstellen? Hatte sich ihre Erfahrung als Abenteuerroman-Verehrerin nicht bereits als lohnend erwiesen?
»Etwas Ähnliches«, sagte er, die breite Straße hinunterfahrend, die später in den Highway münden würde, der in die Berge führte. Erstaunlich, wie viel sie sich zusammengereimt hatte, aus der bloßen Begegnung mit ihm und den wenigen Worten, die er ihr gesagt hatte. Und wie nahe der Wahrheit sie gekommen war!
»Ich wußte es!« rief Mrs. Lemmon aus, so stolz auf sich selbst wie auf ihn. »Von dem Augenblick an, da ich Sie sah. Ich sagte zu mir: ‚Das ist ein starker Mann. Der weiß, was er tut!’«
Das war so offenkundig lächerlich, daß Michael Wireman sich vor Verlegenheit krümmte. Er dachte nach, wie er ihr diese Illusion rauben könnte. Freiwillig alles zum Scheitern bringen, nur um ihr die Augen zu öffnen? Da blieb lediglich die Möglichkeit, ihr sein Leben des langen und breiten zu erklären, wie er es sah. Vielleicht konnte er auch einen einfachen Mechanismus ersinnen, irgendeine Phrase oder Geste, die eine Illusion zerstören würde, noch ehe sie sich ausgebreitet hatte.
Da er jedoch noch nicht soweit war, saß er einfach sinnend da, verärgert über sie, weil sie nicht fähig war, ihn zu durchschauen, während er sich so gut kannte.
Es ist wirklich so einfach, dachte er. Alle, die in dieser Welt leben, wissen, daß man sich mit ihr abfinden muß, um überhaupt existieren zu können, aber sie lieben sie nicht. Kommt jedoch einer, der sich zur rechten Zeit am rechten Platz befindet, um die Welt zu ändern, um ihnen allen Besseres zu bieten — nichts Perfektes, natürlich, aber Besseres — dann liegt es an jenem, das zu tun.
So einfach war das. Ein Glied reihte sich an das andere.
Michael Wireman fuhr und fuhr …
Niemand hätte ihn jetzt aufhalten können, denn er war dabei, die Gelegenheit zu ergreifen, die Welt zu ändern.
Niemand hätte ihm jetzt Angst einjagen können, denn er hatte ergründet, was er wirklich war, und es gesehen; er hatte die Welt ergründet, und sie verstanden.
Als er älter geworden war und ihm noch viele Dinge anders vorkamen, fragte er sich, ob er sich und die Welt wirklich verstanden hätte, oder ob es nur Überzeugung gewesen wäre. Aber seine Art, die Dinge zu betrachten, hatte sich ja als erfolgreich herausgestellt.
Und so schloß er lächelnd und achselzuckend, daß es jetzt ohnedies zu spät für eine Änderung sei, wie immer die Wahrheit auch aussehen mochte.
7
Vorsichtig stieg Ralph Wireman aus dem Rumpf des gelandeten C.S.O.-Raumschiffes. Mit einer seiner beinahe durchscheinenden Hände hielt er sich am Geländer der Gangway fest. Tastend schlurfte er vorwärts.
Er fühlte, wie Thomas Harmon ihn mit einer Hand am Ellbogen stützte. Vielleicht, weil er sich in letzter Zeit seiner körperlichen Hilflosigkeit so sehr bewußt geworden war, ärgerte er sich über Harmons taktvolle Hilfe. Harmon war ja schließlich selbst nicht mehr der jüngste. Er sollte sich nicht so aufspielen und Hilfe leisten, speziell eindrucksvolle Hilfe, um die man ihn nicht gebeten hatte.
Und dennoch: entsprang sie nicht nur der Güte und Rücksichtnahme? War es nicht, als sagte Tom wortlos: »Ich kann mich gut in Sie hineinfühlen?« Und war das nicht das schönste Geschenk, das ein Mensch dem andern geben kann?
Schluß damit! Er mußte auf andere Gedanken kommen. Rührung überkam ihn so leicht, seit neuestem.
Wirkten sich in den letzten Lebensjahren alle Eindrücke so sehr auf das Gefühlsleben aus? Sind die Alten deshalb so gleichmütig — so sparsam mit mehr als nur einem trüben Lächeln oder einem gezwungenen Lachen —, weil der Sturm ausgedrückter Gefühle sie ansonsten zerbrechen würde?