Zeigten sie deshalb nur ein schwaches Lächeln, war auch im Innern Lachen, Lachen — eine Welt der Freude?
Am halben Weg die Gangway hinunter blieb er stehen und Harmon mit ihm.
Lachen, dachte Ralph Wireman, kein schallendes Gelächter, kein unterdrücktes Kichern, sondern das fröhliche Lachen von Kindern, die die Welt entdecken. Werde ich die Welt jetzt neu entdecken? Werde ich ruhig dasitzen und mit meinen geschärften inneren Sinnen einen neuen Horizont sehen? Ein neues Abenteuer in Gedanken erleben, während sich auf meinem Gesicht nur ein nachdenkliches Lächeln abzeichnet. Ein Lächeln, oder Tränen, vielleicht. Tränen kommen leichter als Lachen. Tränen verbrauchen keinen Atem, Tränen verursachen keine Kieferschmerzen, wenn diese wund sind vom künstlichen Gebiß — ja, die ruhig fließenden Tränen alter Männer und alter Frauen sind auch sicher. Nicht das Schluchzen erwachsener Menschen, sondern Kindertränen; nicht zornige Kindertränen, sondern Tränen, die sie in Augenblicken kindlichen Leids vergießen: das sind die Tränen, die uns wiederkommen, wenn wir sehr alt sind.
Vielleicht, dachte Wireman, überschreiten wir aber doch einmal die Grenze. In einem Augenblick, in dem wir trotz aller Sorgfalt die Kontrolle über unsere Gefühle verlieren. Das wäre dann der Tod. Jeder von uns wird in eine private Welt eingehen: Lachen wird es geben für jene, die sich an Freude, Traurigkeit für alle, die sich an Sorgen erinnern.
Unsere Vergangenheiten, unsere Leben werden mit einem lauten Schlag enden, und dann, wenn wir Uhren und Tage hinter uns gelassen haben, sind wir in der Ewigkeit …
»Die Erde«, sagte Ralph Wireman, die Kiefern betrachtend. »Die Erde, Tom.«
»Dort ist Michael«, bemerkte Thomas Harmon.
Ralph Wireman schaute, blinzelte und streckte den Kopf vor, wie um die Entfernung zwischen sich und dem vagen, vertikalen grünen Pinselstrich auf dem großen weißen Fleck zu verringern. Denn mehr sah er nicht.
»Er spricht mit Captain Lemby.«
»Ich sehe ihn«, sagte Ralph Wireman gereizt.
Die Hacken zusammenschlagend und mit rasselnden Gewehren nahm eine Ehrengarde Aufstellung.
»Man empfängt uns, Ralph.« Harmon stieß ihn leicht an.
»Gut, gut! Ich kenne das Protokoll genauso wie Sie.«
Zu spät erinnerte sich Ralph Wireman, daß er Thomas Harmon erst vorhin in Gedanken neu eingeschätzt hatte. Schuldbewußt schaute er ihn über die Schulter an. Aber der alte Freund sah nicht beleidigt aus, nur ungeduldig.
Niemand — niemand darf mich straucheln sehen, dachte Ralph Wireman. Ich darf nicht zu langsam gehen, ich darf nicht scharf sprechen, ich darf nicht zeigen, daß es mich anstrengt … Ich muß jemand sein, auf den man sich noch eine Weile verlassen kann.
Aber es wurde immer schwieriger für ihn, diese Gedanken zu halten. Ihnen zu gehorchen, verlangte phantastische Kräfte.
Sonderbar, dachte er, daß mein Verstand so klar ist, wenn es um metaphysische Dinge geht, und so verworren, wenn er sich mit der diesseitigen Welt beschäftigen muß.
Mißbilligend schüttelte er den Kopf. Langsam war er die Gangway hinuntergestiegen, und da stand nun der Junge vor ihm. Lemby, der Bevollmächtigte der C.S.O. war zurückhaltend, und die Ehrengarde, Erdenbürger in C.S.O.-Uniformen, schaute geradeaus.
Weil alle diese Leute da waren, aber nicht teilnahmen, und nur sein Sohn zu ihm sprach, und weil er nur auf so kurze Entfernung etwas sehen konnte, war es Ralph Wireman, als wären Zeit und Raum stehengeblieben. Die Vergangenheit bestand aus einem Stück, kein Abschnitt war jünger als der andere, und erhob sich wie ein Monolith.
»Michael«, sagte Ralph Wireman.
»Wie geht es dir, Vater?« fragte Michael.
»Mir geht es gut. Deine Mutter …« Er deutete nach rückwärts. »Sie erholt sich von der Fahrt.« Er gestikulierte wieder. »Erinnerst du dich an Thomas Harmon?«
»Sehr gut. Wie geht es Ihnen, Mr. Harmon?«
»Ausgezeichnet, Michael. Ich freue mich, Sie zu sehen.«
Ja, dachte Ralph Wireman, und hörte gar nicht weiter hin, Thomas Harmon war von Michael beeindruckt und von dem, was er getan hatte. Auf ihrer Reise von Cheiron hatte er im Raumschiff des öfteren davon gesprochen.
Auf Cheiron hatte man sie zuerst in einem unbequemen Hotel gefangengehalten und ihnen dann plötzlich eine luxuriöse Fahrt zur Erde angeboten, nur weil Michael hier etwas unternommen hatte.
Aber Ralph Wireman war nicht beeindruckt von dem, was Michael getan hatte. Jeder konnte bekommen, was er wollte, wenn er der Stärkere war. Um immer mehr zu bekommen, muß man nur stärker werden.
Thomas Harmon hatte das genauso wie jeder andere auch gewußt. Aber er hatte nicht recht daran geglaubt, daß es ein unumstößliches Gesetz des menschlichen Universums war, und auch nicht, daß es auf Michael Wireman so gut wie auf jeden anderen Menschen zutreffen würde.
Er hatte dem Jungen die Gelegenheit gegeben, weil sein Verstand ihm das geraten hatte. Über den Erfolg war er dann sehr erstaunt gewesen.
Und wegen dieses Zweifels an Ihrer eigenen Intelligenz, dachte Ralph Wireman, sind Sie nicht so geeignet, Menschen anzuführen, wie ich, Tom. Aber das tut jetzt nichts mehr zur Sache — noch ein paar Wochen, oder Monate, und alles wird zu Ende sein. Wir werden eine Demarkationslinie aushandeln, die unser Gebiet von dem der C.S.O. trennen wird. Es wird Neuwahlen geben und für uns wird es aus sein.
Dann werden wir in der Sonne sitzen und auf die Ewigkeit zugehen. Sie werden in Ihre eigene, private Welt kommen und ich in meine. Nie werden wir uns dann wiedersehen, außer in Träumen.
Was aus Michael geworden war, das beeindruckte ihn, denn er wußte, daß nicht jeder das werden kann, was er werden möchte; sondern nur das, was in ihm steckt.
Nie hätte er gedacht, daß sich in Michael ein eigener Menschentyp verbarg. Auf Cheiron hatte sich durch nichts gezeigt, daß Michael das hatte, was für einen Führer so wichtig ist: Selbstvertrauen.
Selbstvertrauen ist das Wissen, daß Menschen lange nicht so klug oder selbstsicher sind, wie sie vorgeben, lange nicht so zielbewußt, wie sie zu sein scheinen; daß sie wissen, eine Führung nötig zu haben, und automatisch jenen folgen, die die Führung übernehmen; daß praktisch jeder intelligente Mann mit guter Ausbildung und gesundem Menschenverstand dafür in Frage kommt, solange er bemüht ist, sich Führungsgrundsätze anzueignen und nicht davon abzuweichen.
Aber wie viele Männer werden in jeder Generation geboren, die den festen Willen haben, eine Richtung einzuschlagen und ihr ein Leben lang zu folgen? Solch ein Mann eines so seltenen Typs erkennt natürlich, daß er über allen anderen Menschen steht, und er wird streng darauf achten müssen, daß sich dieses Bewußtsein darum, eine einmalige Gabe zu besitzen, und das fatale Gefühl, von Gott auserkoren zu sein, die Waage halten. In der einen Waagschale liegt Wohlwollen, in der anderen Tyrannei.
Auf diese Weise kann man sich auch das Verhalten berühmter Männer der Weltgeschichte erklären.
Aber zu denken, daß Michael — sein Michael — es so weit gebracht hatte!
»Wie geschah das nur, Junge?« fragte er und unterbrach damit jemanden, der gerade etwas zu Michael sagte. »Wie bist du daraufgekommen?«
Nun, da er ihm nahe genug war, konnte Ralph Wireman seinen Sohn betrachten und mit einem erfahrenen Blick beurteilen.
Ralph Wireman sah, daß er nicht sehr viel härter geworden war. Es schien, daß er nie so zäh wie sein Vater werden würde. Nur seine Art zu gehen war anders geworden. Aber durch diesen neuen, sicheren Schritt hatte sich sein ganzer Körper verändert. Jeder Muskel hatte sich anpassen müssen und dadurch ein anderes Aussehen bewirkt.
Die Züge eines Menschen werden dadurch bestimmt, wie das Licht Vertiefungen und Vorsprünge des Gesichts trifft. Der Junge trug seinen Kopf jetzt anders. Das Licht fiel daher in einem leicht geänderten Winkel auf Augen und Nase, und das sich daraus ergebende Licht- und Schatten-Muster verlieh ihm andere Züge.